Seraphim
nicht an! Deine Augen, sie brennen! Weg! Weg!« Er fuchtelte mit den Armen durch die Luft und stieß sich dabei das Handgelenk an der Wand an. Er schien es nicht zu bemerken. »Weg!«, schluchzte er, dann schlug er beide Hände vor die Augen und ließ sich auf die Knie fallen. Er krümmte sich zusammen wie ein Säugling. Ein leises Summen drang zwischen seinen Lippen hervor. Katharina erkannte die Melodie eines Schlafliedes, das in Nürnberg weit verbreitet war.
Schedel warf Zeuner einen unsicheren Blick zu.
Der überwand endlich seine Starre. »Ergreift Ihn!«, befahl er seinen Männern.
Zwei von ihnen gehorchten, steckten ihre Schwerter fort und näherten sich Sebald.
»Lasst mich!«, kreischte der. »Rührt mich nicht an!« Er heulte auf. Rotz lief ihm aus der Nase, und er schniefte, als er gepackt und auf die Füße gezerrt wurde.
»Lasst ihn!« Ohne dass sie es bemerkt hatten, war Sigrid aus ihrer Kammer gekommen und schlurfte auf ihren Sohn zu. In den gichtigen Händen hielt sie ihr Amulett, der Anhänger mit dem Bildchen baumelte zwischen ihren Fingern hervor. »Ich bin bei dir, dir wirdnichts geschehen!« Sie streichelte Sebald über die Brust, um ihn zu beruhigen, und für einen Augenblick schien es ihr auch zu gelingen.
Sebald schaute sie an. Lautstark zog er die Nase hoch und wischte sie sich dann an der Schulter ab. »Mutter?« Sein Blick fiel auf das Bild des heiligen Lorenz, und er zuckte zusammen, als habe ihn ein Peitschenhieb getroffen. Brüllend wollte er sich auf Sigrid werfen, aber die Büttel hielten ihn.
»Fort!« Diesmal war Sebalds Kreischen kaum noch zu verstehen. »Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!« Wie Wasser aus einem lecken Schlauch wich die Kraft aus ihm. Sein Gesicht verlor jeglichen menschlichen Ausdruck, wurde dumpf und blöde. Seine Lider begannen zu flattern, und schließlich mussten die Büttel ihn aufrecht halten. »In Ruhe lassen«, murmelte er noch. Dann war er still.
Katharina hatte am gesamten Leib eine Gänsehaut. Sie musste an Faro denken und an die Wahnsinnigen vom Rabenstein, deren Zustand dem von Sebald so sehr ähnelte. »Was ist«, murmelte sie, »wenn er einfach nur dem allgemeinen Wahn verfallen ist, wie die anderen Bürger der Stadt?«
»Ich vermute, das ist er«, entgegnete Schedel. »Mein Bruder und ich, wir denken, dass der Wahn ihn dazu gebracht hat, sich an die Begebenheiten von Padua zu erinnern. Möglicherweise ist es dieser Wahn, der ihn erneut dazu getrieben hat zu morden.«
»Ich habe nicht gemordet!« Plötzlich klang Sebalds Stimme wieder völlig ruhig und gesund. Katharina sah ihn an. Das Leben kehrte in seine Augen zurück, der matte Ausdruck fiel von seinen Zügen, und der Sebald kehrte zurück, den sie kannte. Das Flackern in seinem Blick erlosch, und er versuchte, sich aus dem Griff der Büttel zu befreien.
»Erinnere dich an Padua«, ermahnte Schedel ihn. »Du hast gesehen, wie der Schwan erwachte. Du hast seine Schreie gehört. Und kurze Zeit später musste Pietro sterben.«
»Ich war es nicht!«, beharrte Sebald. »Und Ihr wart Euch meiner Schuld auch nicht sicher, nicht mehr, nachdem der Nachrichter mich endlich aus seinen Fängen gelassen hatte.«
Der Nachrichter? Katharinas Kehle zog sich zusammen. »Was geschah mit Sebald – damals in Padua?«, hauchte sie. Sie wusste nichtsüber die Rechtsprechung in dieser Stadt, aber sie vermutete, dass man dort ganz ähnlich gegen Verdächtige vorging wie hier in Nürnberg: Ein begründeter Verdacht führte zur Folter, um ein Geständnis zu erlangen und eine Verurteilung herbeizuführen.
Es war Schedel, der ihr die Antwort gab. »Natürlich wurde Pietros Tod untersucht, und man verdächtigte Sebald, ihn getötet zu haben. Sämtliche Hinweise sprachen dafür.«
»Hinweise, die Ihr selbst den Untersuchern erst gegeben habt!«, zischte Sebald. »Ihr habt ihnen von dem missglückten anatomischen Versuch erzählt! Ihr habt ihnen gesagt, dass es möglich ist, dass diese Krankheit«, er schlug sich gegen die vernarbte Nase, »mein Gehirn angegriffen haben könnte.«
»Schwanenflügel«, warf Schedel ein. Seine Stimme wurde jetzt zunehmend kühler, und Katharina hatte das Gefühl, er müsse sich nicht nur gegen Sebalds Vorwürfe wappnen, sondern auch gegen die eigenen Schuldgefühle. »Und ein sterbender Schwan auf dem Seziertisch! Jeder hätte diesen Schluss gezogen!«
»Ich war es aber nicht!« Sebald schrie jetzt. Die Sehnen an seinem Hals traten deutlich sichtbar hervor. Dann sank er in
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