Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
der Ummauerung. Im Laufe ihres Weges schlossen sich dem Zug wohl zwei Dutzend Menschen an, die nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs gewesen waren und jetzt auf ein Spektakel hofften.
    Außerhalb der Befestigungsanlagen befand sich ein weitläufiges Sumpfgebiet, das zu Ehren einer sehr alten Nürnberger Familie die Hallerwiesen genannt wurde. Hier verbreiterte sich die Pegnitz und floss langsamer. An dieser Stelle wurden üblicherweise diejenigen zum Tode Verurteilten hingerichtet, die man zum Ertränken bestimmt hatte. Wie ein Schiffssteg oder eine Mole lag eine Bühne am Ufer des Flusses und ragte zum Teil über das Wasser hinaus. Sie war aus Holzbohlen gezimmert und groß genug, um die Richter und Schöffen, den Delinquenten und den Henker aufzunehmen. Das Volk, das hier den Hinrichtungen beiwohnen wollte, musste sich auf den Wiesen aufhalten und die Hälse recken, um etwas zu sehen. Ein schmaler Karrenweg führte zu der Bühne, tief ausgefahren die Räderspuren und knöcheltief mit Regenwasser gefüllt.
    Katharina hatte nasse Füße, kaum dass sie das feste Pflaster von Nürnbergs Straßen hinter sich gelassen hatte. Sie konzentrierte sich auf das kalte Wasser in ihren Schuhen, das bei jedem Schritt hin und herschwappte, einmal ihre Zehen umspülte und dann die Fersen, wobei es die offenen Druckstellen brennen ließ.
    Die beiden Büttel führten sie auf die Mole. Ihre Stiefeltritte ließen das feste Holz dröhnen, und es schwankte unter Katharinas Füßen.Ihre Knie zitterten jetzt unkontrolliert, doch die beiden Bewaffneten bewahrten sie vor dem Taumeln.
    Das Licht der Fackeln fiel auf einen kranartigen Ausleger, an dessen Ende eine lange Kette über dem Wasser baumelte. Sie lief oben am äußersten Ende des Kranes über einen Flaschenzug und führte zu einer Winde, um die sie geschlungen war. Ein eiserner Käfig stand mit offener Tür bereit, um einen Verurteilten aufzunehmen. Katharina schluckte. Sie erinnerte sich plötzlich daran, dass sie als Kind einmal mit Matthias hier gewesen war. Der Käfig hatte damals eine eigenartige, unheilige Faszination auf sie ausgeübt, und sie hatten es als Mutprobe angesehen, in den Käfig zu klettern und den anderen die Tür schließen zu lassen. Damals war der Grusel aufregend gewesen, aber jetzt, mit gebundenen Händen hier stehend und in Erwartung, gleich selbst in die dunkle, kalte Pegnitz getaucht zu werden, verkrampfte sich jede Faser von Katharinas Körper.
    Die Zeugen und die Mönche stellten sich am Rand der Mole auf. Zeuner gab den Bütteln, die die Fackeln trugen, ein paar Befehle. Dann warteten sie.
    Richard war es verwehrt worden, die Bühne zu betreten, aber er stand so dicht wie möglich an ihrem Rand und ließ den Blick nicht von Katharinas Gesicht. Die Menge der Neugierigen in seinem Rücken verschmolz zu einer dunklen Wand, aus der Katharina Dutzende von Augenpaaren entgegenstarrten.
    »Worauf warten wir?«, fragte Krainer, nachdem einige Minuten in Schweigen vergangen waren.
    »Auf den Henker«, gab Zeuner zur Antwort. »Er ist zuständig für Angelegenheiten dieser Art, und ich habe nach ihm schicken lassen.«
    Damit schien Krainer zufrieden, denn er versank in Schweigen. Claudius trat an Katharinas Seite.
    »Sprich mit mir das Vaterunser«, bat er.
    Die lateinischen Worte kamen sperrig aus Katharinas Kehle, aber nach zwei Zeilen wurde ihre Stimme fester, und es gelang ihr, sie zu heben, damit die Umstehenden erkennen konnten, dass sie keinerlei hexische Scheu hatte, die heiligen Worte auszusprechen. Als sie am Ende angelangt waren, hob Claudius das Kreuz, das um seinen Halshing, und hielt es Katharina vor die Lippen. Sie küsste es. Es schmeckte metallisch und kühl.
    Ein Raunen ging durch die kleine Menschenmenge vor der Bühne.
    »Sie ist keine Hexe, ich sage es ja. Sie wird die Probe bestehen!« Zeuner sprach leise zu Stadtrat Mullner, aber mit einer solchen Überzeugung, dass er in Katharina die Hoffnung erweckte, er möge recht haben.
    Endlich kam Bewegung in die Büttel mit den Fackeln. »Er kommt!«, rief jemand und wies in Richtung Stadtmauer.
    Von dort näherten sich zwei Männer, die in ihrer Mitte etwas Großes, Unförmiges trugen. An der Gestalt erkannte sie den einen: Es war Bertram. Er humpelte leicht, so als habe er bei dem Angriff der Wahnsinnigen auf dem Rabenstein eine Verletzung davongetragen, und dieses Anzeichen von Schwäche machte ihn in Katharinas Augen noch furchtbarer. Es zeigte ihr, dass auch er nur ein Mensch war und

Weitere Kostenlose Bücher