Seraphim
ich will Euch etwas zeigen!« Pömer griff nach dem Kerzenständer und eilte durch den Bogen in den hinteren Teil des Kellers. Als Richard ihm folgte, hatte der Getreidehändler bereits die Tür geöffnet und war hindurchgeschlüpft.
Der geheime Gang dahinter war niedrig und führte durch sorgfältig mit Balken abgestütztes Erdreich. Würziger Geruch wie der von Walderde umfing Richard, blieb aber zurück, als der Tunnel in den unter Nürnbergs Norden üblichen Felsen überging. Der Schmerz in Richards Schädel verwandelte sich in ein Pochen. Leichter Schwindel erfasste ihn. Er musste sich beeilen, um dem dicken Getreidehändler zu folgen, der erstaunlich leichtfüßig vor ihm hereilte.
Der Gang vollzog einige flache Kurven und endete schließlich vor einer schlichten Bretterwand. Richard hörte Pömer kichern. Es klickte, dann öffnete sich die Wand.
»Kommt!«, verlangte Pömer. »Ich muss Euch etwas wirklich Großartiges zeigen.«
Der Gang, in den sie jetzt traten, war ein ganzes Stück höher als der vorige, und unter den steinernen Platten, mit denen er ausgelegt war, gluckerte Wasser.
»Das ist die Lochwasserleitung«, strahlte Pömer. »Wunderbar, oder?« Er betätigte einen verborgenen Mechanismus, und die Holzwand schwang an Ort und Stelle zurück.
»Wie habt Ihr den Eingang ...« Noch bevor er die Frage ausgesprochen hatte, erkannte Richard, wie Pömer die Einmündung desGeheimganges in die Lochwasserleitung getarnt hatte. Er stieß einen überraschten Pfiff aus. »Genial!«
Auf dieser Seite sah das Holz nicht aus wie Holz. Jemand hatte seiner Oberfläche mit grauer Farbe und sehr viel Kunstverstand den Anschein von Felsen gegeben. Das Brett passte exakt in die Öffnung des Geheimganges, so dass keine Kante überstand. Wenn man nicht sehr genau hinsah, war die Einmündung praktisch unsichtbar.
»Da hat die ganze Kunstfertigkeit der Maler aus Italien doch endlich einmal einen vernünftigen Nutzen, was?«, bemerkte Pömer und eilte weiter.
Richards Gefühl nach waren sie auf dem Weg nach Norden, Richtung Burgberg; der Gang stieg leicht, aber stetig an. Immer wieder trafen Nebenkanäle die Hauptleitung und speisten sie mit ihrem Zulauf, andere führten Wasser von ihr fort in tiefer gelegene Teile der Stadt. In einen der Zuläufe bog der Getreidehändler schließlich ab. Hier floss ihnen das Wasser in einer offenen Rinne entgegen, statt, wie in den anderen Abzweigungen, unter den Bodenplatten entlang geführt zu werden. Die Wände des Ganges waren offenbar mit Werkzeugen bearbeitet worden, sie trugen ein fast regelmäßiges Muster aus Meißelspuren.
»Wir sind jetzt genau unter dem Predigerkloster«, erklärte Pömer. Zu seiner Rechten war die Stollenwand unterbrochen, das Wasser aus der Rinne ergoss sich in ein quadratisches Becken, in dem es sich sammelte und mehrere Fuß hoch stand. »Das hier ist der Brunnen im Nordhof der Mönche.«
Pömer führte Richard weiter. Nach jeder Abzweigung wurde die Rinne zu ihren Füßen breiter und tiefer, so dass das Wasser ihnen bald mit lautem Rauschen entgegenkam.
»Das ist ja ein richtiges Labyrinth!«, entfuhr es Richard. Er hatte keine Ahnung, ob er allein den Weg zurückfinden würde.
Pömer lachte. »Nicht wahr? Gleich sind wir da.«
Das Licht seiner Kerzen huschte über die Wände und die Decke des Ganges, der nun zu niedrig war, als dass Richard aufrecht gehen konnte. Eine schmale hölzerne Wendeltreppe tauchte vor ihnen auf und verschwand durch ein Loch in der Decke. Pömer erklomm sie. Bevor Richard einen Fuß auf die unterste Stufe setzte, warf er einenBlick in die Höhe, aber er konnte das Ende der Treppe nicht erkennen. Pömers Kerzen erhellten die erste Wendel, warfen die Schatten der Stufen als spiralförmiges Muster an die Wände, der Rest lag in völliger Finsternis.
»Kommt schon!«, hörte Richard den Getreidehändler wieder rufen.
Er beeilte sich, der Aufforderung Folge zu leisten. Die Treppe wand sich um Kehre und Kehre, bis Richards Beinmuskeln anfingen zu schmerzen und Pömers Keuchen zu einem qualvollen Schnaufen geworden war. Dann endlich waren sie oben. In einer Höhle.
Oder in einem Gewölbe.
Richard sah sich verwundert um. Es war schwer zu sagen, ob die Höhle natürlichen Ursprungs war oder von Menschen erschaffen. Teile der Decke und auch die Wände, die er sehen konnte, wirkten wie aus gewachsenem Felsgestein, das niemals mit menschlichen Werkzeugen in Berührung gekommen war. An einigen Stellen jedoch schien man vor langer
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