Seraphim
Berührung. Folgsam ging er mit Marquard davon.
Richard hatte keine Ahnung, was die beiden trieben, aber sie blieben lange genug fort, dass er Gelegenheit hatte, sich genauer umzusehen und nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. In dem Kreis, den die Kerzen mit ihrem Licht erfüllten und gegen die Finsternis abgrenzten, befand sich nur der Seziertisch und dahinter das schwarzsilberne Tuch. Aber an der Stelle, an der Marquard den Kerzenleuchter fortgenommen hatte, konnte Richard mehr erkennen.
Dort, direkt vor der Höhlenwand, standen zu Hunderten aufgestapelte Fässer. Große Fässer, übereinandergestellt zu Dreierreihen, sowie eine Handvoll kleinere, die sorgfältig zu einer hüfthohen Pyramide arrangiert waren. Und dahinter, jetzt besser zu sehen, weil Richard ihm nun ein ganzes Stück näher war als zuvor, befand sich der merkwürdig monströse Apparat, der ihm zuvor bereits aufgefallen war. Jetzt konnte Richard sehen, dass es sich nicht wirklich um einen Kessel handelte, sondern um ein riesiges metallenes Gefäß von der Form einer Phiole, eiförmig und auf den Kopf gestellt, so dass der Hals nach unten ragte. Sein ebenfalls aus Messing gefertigter Verschluss war über eine Stange mit einem kompliziert aussehendenGebilde aus Zahnrädern und drehbaren Achsen verbunden, in deren Mitte völlig deplatziert Pömers mechanischer Hahn hockte. Richard blinzelte, weil er glaubte, die Augen in seinem geschundenen Kopf spielten ihm einen Streich.
»Ihr seid so ein hübscher Kerl, wisst Ihr das?« Marquards sanfte Stimme war plötzlich ganz dicht bei Richards Ohr. Er hatte den Maler nicht kommen hören, und er fragte sich, ob er vielleicht für kurze Zeit wieder ohnmächtig geworden war. Vor seinen Augen tanzten glühende Punkte, und er würgte. Nichts konnte er tun, als zuzusehen, wie Marquard sich über ihn beugte und ihm mit einer beinahe zärtlichen Geste die Haare hinter die Ohren strich.
»So ein schönes Gesicht«, murmelte der Maler. Seine Worte klangen nun verwaschen, unscharf, wie die eines Trinkers. Er drehte seine Hand, so dass nun nicht mehr seine Fingerspitzen Richards Wange berührten, sondern die Nägel. Mit ihnen strich er ihm vom unteren Augenlid bis hinunter zum Ohrläppchen, und Richard rann eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Er wollte sich wehren, wollte die Hände heben, um Marquard fortzustoßen, doch die Fesseln hielten ihn.
Marquard lächelte fein. »Ihr fragt Euch, was das soll, nicht wahr? Nun, ist es nicht so, dass wir bei unseren Forschungen dem Tod immer ein Stück hinterherhecheln?« Trotz der Kälte zog Marquard seine Jacke aus, so dass er nun hemdsärmlig vor Richard stand. Rüschenbesetzte Manschetten bauschten sich an seinen Handgelenken, und er schob sie über die Ellenbogen nach oben. »Ihr selbst habt den Vorschlag gemacht, Richard, erinnert Ihr Euch?«
Welchen Vorschlag? , wollte Richard fragen, aber Marquard kam ihm zuvor.
»Den Vorschlag, nicht mehr an toten Objekten zu forschen.«
Der Sinn dieser Worte bahnte sich nur sehr langsam seinen Weg bis in Richards Gehirn, aber als er angekommen war, entzündete er helle Panik. Richard keuchte auf. Seine Finger begannen zu kribbeln, und es gelang ihm, sie zu Fäusten zu ballen. Doch es nützte ihm nichts. Die Fesseln waren straff und unüberwindlich.
Pömer tauchte am Rande von Richards Gesichtsfeld auf. Starr stand er da, das Gesicht leer. Nur seine Augen hatten einen Ausdruck,den Richard schon einmal an ihm gesehen hatte. Wo war es nur gewesen? Wann war es gewesen? Plötzlich hatte Richard das Gefühl, dass er sich erinnern musste, wenn er das hier überleben wollte.
Marquard lachte auf und riss ihn damit aus seiner Grübelei. »Seit jeher haben sich die Menschen wenig darum geschert, was sie dürfen und was nicht.« Er verschwand für einen Augenblick aus Richards Blick, und als er wieder da war, hielt er etwas in der Hand, das er sorgfältig vor Richard verbarg.
Richard konzentrierte sich auf die Muskeln in seinen Armen. Er gab ihnen den Befehl, sich anzuspannen, aber alles, was er damit erreichte, war, dass sich das Leder der Fesseln in die Haut an seinen Oberarmen schnitt. Er drehte den Kopf, sah Pömer an. Dessen Zungenspitze ruhte in seinem Mundwinkel.
»Warum?«, wandte Richard sich an ihn.
Er reagierte nicht.
»Es gibt da eine hübsche kleine Geschichte«, erklärte Marquard freundlich. »Möchtet Ihr, dass ich sie Euch erzähle?«
Um Zeit zu gewinnen, nickte Richard. Sein Genick knirschte dabei.
Marquard
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