Seraphim
plötzlich nichts mehr, keinerlei Angst, kein Aufbegehren gegen die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Plötzlich war alles in ihr wie betäubt, als sei die melancholia der Handwerkersfrau auf sie übergesprungen.
»Nun!« Hoger hielt das Fläschchen hoch, das er noch immer in der Hand hatte. »Ich denke, wir haben sie noch einmal erwischt! Das hier reicht auf jeden Fall, um Euch festzusetzen. Und ich überlege noch, wie die Anschuldigung lauten wird.«
»Nein!« Mit einem Satz, den Katharina ihr niemals zugetraut hätte, sprang Bettine aus ihrem Bett. Sie baute sich vor ihrem Mann auf, das weite, weiße Nachtgewand bauschte sich um ihre Gestalt, als sie die Hände in die Hüften stützte. »Du wirst Katharina nicht ausliefern, mein lieber Mann!«
Hoger zog eine Augenbraue hoch. Katharina konnte ihm ansehen, wie sehr ihn der Auftritt seiner Frau überraschte.
»Wer sollte mich daran hindern?«, fragte Hoger.
Bettines Blick huschte zu Katharina. »Sie ist mir eine weitaus größere Hilfe, als alle deine Quacksalber zusammen.«
»Sie ist der Grund für deine Krankheit!«
»Das glaubst du, aber ich nicht.«
Hoger schüttelte ungläubig den Kopf. »Du würdest in einem Prozess für sie aussagen, nicht wahr?«
Bettine blitzte ihn an. »Gegen dich? Ja, wenn du mich dazu zwingst, und glaub mir, nicht nur ich! Es gibt eine ganze Reihe hochgestellter Bürgersfrauen, die es ebenfalls tun würden.«
»Den Vorwurf, unerlaubterweise Arzneien zu verkaufen, kann keine von ihnen entkräften!«
Bettine war nun völlig ruhig. »Mag sein. Aber wenn du Katharina für dieses Vergehen anzeigen willst, kannst du den Stadtbütteln auch gleich davon erzählen, was du neulich mit diesem astronomischen Instrument von Magister Müller gemacht hast, das dir rein zufällig in die Hände gefallen ist.«
Jetzt war es an Hoger zu erbleichen. »Du weißt davon?«, hauchte er.
Bettine triumphierte. »Dir war völlig klar, dass es Bernhard Walther gehören muss, denn er ist der Erbe dieses Magisters aus Königsberg. Trotzdem hast du es verscherbelt, Peter. Das nennt der Rat Diebstahl! Katharina bleibt ungeschoren«, fügte sie ungerührt hinzu. »Dann bleibst du es auch.«
Für einen langen Moment stand Hoger wie zur Salzsäule erstarrt. Dann warf er sich auf dem Absatz herum und stürmte mit der gleichen Wut aus dem Raum, mit der er hereingekommen war.
Katharina sah ihm nach, während Bettine zurück in ihr Bett kletterte und die Decke bis ans Kinn zog. »Du solltest jetzt besser gehen«, riet sie.
»Wird er ...?«
»Dich anzeigen?« Die Handwerkersfrau zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Um dich vor der Anklage wegen Arzneiverkauf zu bewahren, reicht meine Drohung wahrscheinlich.« Sie holte tief Luft. »Aber Zauberei, Katharina, das ist ein fürchterlicher Verdacht.«
»Zauberei, das ist ein fürchterlicher Verdacht!«
Bettines Worte klangen noch in Katharina nach, nachdem sie das Haus der Hogers längst verlassen hatte.
Ihre Fingerspitzen und ihre Kopfhaut kribbelten, als rännen Ameisen darüber, und um ihre Unruhe zu besiegen, lief sie eine Weile ziellos durch Nürnberg. Zwei Stadtbüttel kamen ihr entgegen, und sie blieb wie angewurzelt stehen. Sie konnte sich einfach nicht mehr bewegen.Die Gewissheit, dass man sie jetzt festsetzen und ins Loch werfen würde, presste ihr jegliches bisschen Kraft aus den Gliedern.
Doch die Büttel gingen vorbei. Einer von ihnen warf ihr einen fragenden Blick zu, dem sie auswich, dann verschwanden die beiden Männer um eine Hausecke.
Katharina wollte Luft holen, doch ein Gewicht hatte sich auf ihre Brust gesenkt und ließ sie keuchen. Und dann, für einen kurzen Augenblick, verlor die Umgebung all ihre Farbe, wurde grau und trist und tonlos. Alle Empfindungen verblassten, bis auf eine einzige. Der Verlust.
Der Verlust ihres Mannes.
Sie lenkte ihre Schritte in Richtung Süden, hinunter zur Pegnitz, vorbei am Heilig-Geist-Spital und seiner Kapelle, in der die Reichskleinodien aufbewahrt wurden, die König Sigismund den Nürnbergern zur Aufbewahrung überlassen hatte. Am Ufer des Flusses ging sie entlang, bis sie zu einem hölzernen Steg kam. Ihre Schritte hallten dumpf auf den alten, fast schwarzen Bohlen wider. Als Katharina wieder festen Boden unter den Füßen hatte, befand sie sich auf der Schüdt, einer von zwei Flussarmen gebildeten Insel, die zum Großteil von Gärten und Obstbäumen bewachsen war. Die Wege hier waren nicht gepflastert und wanden sich zwischen knöchelhoch
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