Serenade für Nadja
gelegen, so hätte ich schwören können, der Mann sei erfroren.
»Herr Professor!«
Er hörte mich nicht.
»He, Professor Wagner! Sie erfrieren uns noch. Kommen Sie bitte.«
Ich fasste ihn am Arm und schüttelte ihn.
»Professor Wagner!«
Vereinzelt sah man Blumen aus dem Kranz des Professors durch das Wasser wirbeln.
Als ich den Mund wieder öffnete, ließ der eiskalte Wind mir den Atem stocken.
Ich versuchte, dem Professor die Geige abzunehmen, aber seine Finger ließen sich nicht aufbringen. Ich gab es auf und bemühte mich nun, ihn zum Auto zu schieben.
Er setzte sich zwar in Bewegung, wandte aber immer wieder den Kopf zurück. Wenn er sich aus meinem Arm zu lösen suchte, widersetzte ich mich nicht allzu sehr, um keine Gewalt anzuwenden. Er blickte zum Meer zurück, als gäbe es irgendwo da draußen etwas zu entdecken, und dann machte er Anstalten, darauf zuzulaufen, wovon ich ihn natürlich abhielt. Ohne mein Eingreifen wäre er vermutlich nach ein paar Schritten gestürzt. Ich drehte ihn jeweils wieder in Richtung Auto, und während wir auf diese Weise nur mühsam vorwärtskamen, hörte ich ihn immer wieder ein bestimmtes Wort hervorbringen, das so ähnlich klang wie »Suturm«, »Sutma«, »Sutuma«. Ich kam nicht darauf, was er meinte, aber mir ging es ohnehin nur darum, ihn ins Auto schaffen.
Irgendwann leistete er keinen Widerstand mehr. Dennoch war es bei dem Wind schwer genug, ihn vorwärts zu bewegen. Endlich stieg Süleyman aus, um mir zu helfen. Gemeinsam brachten wir den Professor bis ins Auto.
Abgesehen vom Wind war es drinnen nun kaum wärmer als draußen. Innerlich verfluchte ich Süleyman.
»Lassen Sie doch den Motor an, schnell!«
Er drehte den Zündschlüssel um, aber der Wagen gab nur ein Krächzen von sich.
»O Gott«, rief ich, »bitte nicht das! Nicht jetzt!«
Der Professor neben mir fing nun zu schlottern an. Ich hörte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen. Womöglich starb er gleich. Ich nahm seine Hände und versuchte sie mit meinem Atem aufzuwärmen, aber vergeblich.
Süleyman betätigte ständig den Anlasser.
»Los, tun Sie doch was«, rief ich, »der Mann stirbt uns! Und wir sind dann schuld.«
Daraufhin legte Süleyman noch mehr Eifer an den Tag. Er gab Gas, aber irgendwann mussten wir einsehen, dass die verdammte Karre nicht anspringen würde. Es war zum Verzweifeln. Nichtnur konnte der Professor jeden Augenblick sterben, sondern auch wir selbst waren in Gefahr.
Mir fiel jetzt nur eines ein. Ich bat Süleyman, mir zu helfen, und gemeinsam schafften wir den Professor wieder aus dem Auto. Wir hakten uns von beiden Seiten bei ihm ein und mussten ihn regelrecht tragen, denn seine Beine versagten den Dienst.
Bis zum Black Sea Motel waren es an die dreihundert Meter, und das auf sandigem Boden. So mager der Professor auch sein mochte, es kostete eine Riesenanstrengung, ihn bis dorthin zu bringen. Endlich angekommen, stieß ich die Tür auf. Es war niemand drin. Und es war kalt.
Die schmutzigen Tische und Stühle aus Plastik und die Strandposter an der Wand wirkten so armselig, dass sich mir das Herz zusammenzog.
»Ist da jemand?«, rief ich.
Nach einer Weile tauchte ein Junge im Parka auf, ein schmächtiges Bürschchen. Alles an ihm sah spitz aus, seine Augenbrauen, sein Kinn, das ganze Gesicht.
»Schnell, der Mann hier stirbt. Ist hier eine Heizung?«
Verdutzt sah er mich an.
»Nein.«
»Irgendein Ofen?«
»Nein.«
»Was tust du eigentlich hier?«
»Aufpassen. Im Winter ist zu.«
Er war nur schwer zu verstehen. Zum einen sprach er nicht gut Türkisch, zum anderen war er völlig durchgefroren. Ich blickte umher, aber da war auch kein Kamin, nichts.
»Und wie wärmst du dich auf hier? Wie lebst du hier überhaupt?«, rief ich.
Er zeigte auf eine schäbige Tür.
»Ich wohne in dem Zimmer. Es ist klein. Da war ein elektrischer Ofen, da konnte ich Tee und Essen machen.«
Ich sah ihn fragend an, warum er in der Vergangenheitsform sprach.
»Der Ofen ist kaputt. Ich habe ihn heute Morgen zum Reparierengebracht, nach Şile. Komm am Abend wieder, haben sie gesagt. Wenn er nicht fertig ist, dann morgen. Aber ich erfriere hier.«
In kurzer Zeit hatte ich so viel Unglaubliches erlebt, dass mir auch das fast normal erschien. Ausgerechnet wenn wir kamen, war der Ofen kaputt. Aber zum Wundern hatte ich keine Zeit.
»Sperr uns wenigstens ein Zimmer auf!«
»Ich weiß nicht … Dann ist mir Abdullah vielleicht böse.«
»Wer ist Abdullah?«
»Der
Weitere Kostenlose Bücher