Serenade für Nadja
sprangen in den Fluss, gefolgt von den Männern. Die verbleibenden viertausend anderen mussten die Schreie der Ertrinkenden anhören, dann wurden sie in Eisenbahnwaggons gesteckt. Man nagelte die Waggontüren mit Brettern zu, dann fuhr der Zug los.«
»Und unsere Großmutter war da drin?«
»Ja, mit ihren Eltern. Ihre beiden Geschwister hatten sich ertränkt. Nach ein paar Tagen erreichte der Zug die türkische Grenze, von dort sollte er unter türkischer Bewachung bis in die Sowjetunion fahren.«
»Wie lang hat das gedauert?«
»Mindestens drei Tage. Die Leute hofften, die türkische Regierung werde sie aus den Waggons befreien und ihnen das Leben retten. Das tat sie aber nicht.« Mein Bruder stockte. »Die Menschen waren unter entsetzlichen Bedingungen in den Waggons zusammengepfercht. Selbst wer dort drinnen umkam, wurde nicht hinausgeschafft. Immer wieder flehten die Leute die türkischen Soldaten an, ihnen doch die Türen zu öffnen. Mit Tränen in den Augen antworteten die Soldaten, sie hätten ihre Befehle.« Mit leiser Stimme fuhr mein Bruder fort. »Unsere Großmutter redete unaufhörlich auf einen Soldaten namens Ali ein. ›Erschießt lieber ihr uns, bevor es die Russen tun‹, sagte sie.«
»Ali? Etwa unser Großvater Ali?«
»Wart’s ab. Schließlich kam der Zug an der türkisch-sowjetischenGrenze an, beim Stausee von Kızılçakçak. Dort sollten die türkischen Soldaten aussteigen. Auf der anderen Seite der Grenze warteten schon die sowjetischen Soldaten mit ihren Gewehren. Da gelang es den Krimtataren, einige Zugtüren aufzubrechen. Sie stürzten sich in den Stausee, an die zweitausend Menschen. Die anderen wurden drüben von den Russen auf der Stelle erschossen. Von den Soldaten des Blauen Regiments und ihren Familien blieb somit niemand übrig.«
»Und unsere Großmutter?«
»Das ist jetzt das ganz Besondere. Sie gehörte zu denen, die sich in den Stausee gestürzt hatten, aber ein Soldat sprang ihr nach und rettete ihr das Leben.«
»Unser Großvater.«
Er biss sich auf die Lippen und nickte.
»Ali aus Antakya. Er brachte das Mädchen in seine Heimat, verschaffte ihr unter dem Namen Ayşe eine falsche Identität und heiratete sie.«
»Warum eine falsche Identität?«
»Weil die Regierung einen Überlebenden dieser Tragödie zu den Sowjets geschickt hätte.«
Erschüttert saß ich da.
»Necdet, ist das auch alles wahr?«
»Ja, das ist es leider, Wort für Wort.«
»Und was ist mit den Eltern unserer Großmutter passiert?«
»Die sind an der Grenze erschossen worden.«
»Jetzt bin ich völlig durcheinander«, sagte ich. »Ist das nicht arg viel Zufall? Dass unsere beiden Großmütter ihre wahre Identität verborgen haben? So viel Geheimnis in einer einzigen Familie. Kaum zu glauben.«
»Das ist genau der springende Punkt. In der Türkei hat jede Familie solche Geheimnisse. Wenn ein Land mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung verliert, wie sollen da nicht zahllose Familien betroffen sein? Die meisten Familienangehörigen wissen nur nichts von ihren eigenen Geheimnissen. Beim Zusammenbruch des Osmanischen Reichs haben Millionen aus dem Balkan, aus dem Kaukausus, aus dem Nahen Osten ihre Haut nach Anatoliengerettet. An neun verschiedenen Fronten hatten diese Leute gekämpft. Und sich dann hier miteinander vermischt.«
»Und heute nennen wir sie alle Türken.«
»Das sind zwei verschiedene Dinge. Türken, das ist zum einen die türkische Rasse, und zum anderen ist es der Zusammenschluss von Menschen, die vor Massakern nach Anatolien geflüchtet sind. Ein neues Leben, ein neues Land, ein neues Volk.«
»Wie konnte die türkische Regierung die Krimtataren erst aufstacheln und sie dann dem sicheren Tod überlassen?«
»Was vorbei ist, ist vorbei. Ich maße mir nicht an, den Staat zu verurteilen.«
»Und über das Massaker an den Armeniern denkst du genauso?«
»Ja. Meine Aufgabe ist es nicht, den Staat beschuldigen, sondern zu seinem Vorteil zu wirken.«
»Aber in beiden Fällen trifft die Regierung doch große Schuld.«
»Du musst das von einer anderen Warte sehen. Sowohl die Armenier als auch die Krimtataren haben in Kriegszeiten mit einem Besatzer gemeinsame Sache gemacht. Die Armenier als Angehörige des Osmanischen Reichs haben der russischen Armee geholfen, und die Krimtataren haben aufseiten der Wehrmacht gekämpft. Überall auf der Welt wird so etwas bestraft.«
»Aber Necdet, was ist mit den Frauen und Kindern, was für eine Schuld trifft die?«
»Wo gehobelt wird,
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