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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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Großmutter mütterlicherseits, Ayşe, hatten wir nicht so oft gesehen wie die Mutter unseres Vaters, da sie nicht in Istanbul wohnte, sondern in Antakya, so dass wir sie nur in den Sommerferien besuchten. Sie war eine sanfte, aber traurige, schweigsame Frau, und ihr Mann, Ali, war genauso. Sie kamen uns vor wie gutherzige fremde Menschen, die sich hin und wieder um uns kümmerten.
    Ich kann mich noch an das gute Essen erinnern, das es dort immer gab. Besonders schmeckte mir ein Gericht namens Oruk, aus Bulgur und Hackfleisch. Im Garten des zweistöckigen Hauses standen herrliche Granatapfelbäume, und meine Großmutter presste uns immer frischen Saft.
    Einmal zeigte mein Großvater mir einen riesigen Granatapfel. Er ließ ihn beim Krämer auf die Waage legen, und als er fast ein Kilo wog, war mein Großvater selig. Auch zu Sirup verarbeiteten sie die Früchte. Auf der Heimfahrt nach Istanbul waren unsere Koffer immer voller Sirup, Oruk, den verschiedensten Konfitüren, Paprikapaste und scharfem Paprikagewürz.
    Meine Großmutter hatte ein anmutiges Gesicht und sehr weiche Haut; mein Großvater war ein Kettenraucher mit eingefallenen Wangen. Gestorben sind sie beide recht früh.
    Da meine Mutter zehn Jahre jünger war als mein Vater, hatte sie natürlich auch eine jüngere Mutter als mein Vater.
    »War die Mutter unserer Mama etwa auch Armenierin?«, fragte ich.
    »Nein, Krimtatarin. Ihr Mann stammte aus Antakya.«
    »Und, was für eine Geschichte haben sie?«
    »Die erzähl ich dir jetzt.«
    Ich dachte nicht, dass sein Bericht mich derart entsetzen würde. Beim Zuhören wurde mir wieder einmal klar, wie wenig ich über manche Menschen wusste, die ich gut zu kennen glaubte. In was für einem seltsamen Land wir doch lebten, in dem sich in jedem Haus ein Geheimnis verbarg.
    Necdet erzählte also, dass unsere Großmutter mütterlicherseits auf der Krim geboren und aufgewachsen war. Als sie ein junges Mädchen war, brach der Krieg aus. Die Männer des unter Stalin unterdrückten Turkvolks der Krimtataren wurden daraufhin in die Rote Armee eingezogen.
    Als Hitler die Sowjetunion angriff und die Wehrmacht immer weiter vordrang, brachte die Regierung in Ankara die Krimtataren dazu, sich auf die Seite der Deutschen zu schlagen. Hitler werde den Krieg gewinnen, so das Argument, und Stalin seien sie damit los.
    Obwohl die türkische Regierung sich am Krieg nicht beteiligte, unterstützte sie heimlich die Deutschen, denen sie kriegswichtiges Chrom lieferte. Die Krimtataren, die sich auf türkischen Rat hin der Wehrmacht anschlossen, wurden »Blaues Regiment« genannt. Als jedoch die Wehrmacht den Rückzug antrat, blieb den Krimtataren nichts übrig, als sich den Deutschen anzuschließen und ihre Heimat zu verlassen. Zusammen mit ihren Familien kamen die Mitglieder des Blauen Regiments zunächst in einer bergigen Gegend Norditaliens unter.
    »Und unsere Großmutter war da auch dabei?«, fragte ich.
    »Natürlich. Das ist ja ihre Geschichte, die ich gerade erzähle. Ihr Vater gehörte zum Blauen Regiment, und so mussten sie vor den Russen flüchten. Wären sie geblieben, hätte die Rote Armee sie niedergemetzelt. Aus Angst vor Stalins Rache waren daher Tausende von Krimtataren auf der Flucht.«
    »Und woher weißt du das alles?«
    Mein Bruder sah mich an, als wäre das die dümmste Frage der Welt.
    »Als die Alliierten in Italien landeten, konnte das Blaue Regiment auch dort nicht mehr bleiben. Man brachte die Krimtataren nach Österreich, in die Gegend von Oberdrauburg in Kärnten. Ihre Not nahm aber damit kein Ende. Als die 8. Armee des Britischen Heeres Österreich besetzte, steckte man die Krimtataren in das Kriegsgefangenenlager Dellach. Sie hofften eigentlich, das sei ihre Rettung. Schlimmstenfalls würden sie in die Türkei gehen und dort ein neues Leben anfangen. Aber leider kam es dazu nicht.«
    Ich hörte meinem Bruder mit wachsendem Entsetzen zu. Das alles sollte meine stille, traurige, liebevolle Großmutter erlebt haben? Warum hatte sie nie davon erzählt?
    »1945 traf aus London ein Telegramm ein, die Lagerinsassen sollten sowjetischen Truppen übergeben werden. Obwohl die Sowjets bereits erklärt hatten, sie würden die Gefangenen allesamt erschießen, ließen sich die Engländer darauf ein. Da geschah etwas Furchtbares.«
    »Was denn?«
    »Etwa dreitausend Menschen beschlossen, sich lieber in die eiskalte Drau zu stürzen, als den Sowjets in die Hände zu fallen. Die Mütter nahmen ihre Kinder bei der Hand und

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