Serum
der Tür eine einzige Eisfläche. Eisner erklärte sich bereit, die erste Wache zu übernehmen.
»Sobald wir wieder Strom haben, geht die Nachricht nach draußen«, meinte ich.
Wir hätten verschwinden sollen, Eissturm oder nicht. Doch wir blieben.
Die Standuhr unten schlug Mitternacht. Hagel prasselte gegen das Fenster, und das Feuer in meinem Zimmer war erloschen. Ich ließ das Gewehr neben dem Bett stehen und tappte in die Diele. Wieder sah ich das Flackern des Feuers unter Kims und Gabrielles Türen hindurch.
Ich blieb stehen, erfüllt von der Gewissheit, dies könnte meine letzte Chance sein. Ich griff nach dem Türknauf mit dem Gefühl eines Mannes, der nach langem Regen die Sonne aufgehen sieht. Jede der beiden Frauen im Haus hätte – ohne die andere – mein Blut in Wallung gebracht.
Aber die Entscheidung war am Strand in Rockaway gefallen, als meine und Kims Lippen sich begegneten und wir einander erkannten.
Schwadron hatte von der Wahl zwischen zwei Wegen gesprochen. Aber ich hatte mein ganzes Leben gebraucht – bis jetzt –, um zu lernen, dass von zweien eines zu viel ist. Ich wollte nur noch den einen Weg, voller Unwägbarkeiten und Überraschungen, bei dem der Weg das Ziel war und der Anblick, der sich hinter der nächsten Biegung bot, weniger zählte als der Mensch, mit dem man die Reise antrat.
Meine zwei Möglichkeiten. Die eine, die ich besser kannte, und die andere, die geheimnisvolle. Die Leidenschaftliche, Gequälte mit dem gewissen Etwas, einer unerklärlichen Anziehungskraft. Und die andere, die gemeinsam mit mir die Liebe verleugnet hatte, mich verstand wie niemand sonst und wie ich geglaubt hatte, dass Liebe etwas wäre, das man wegschließen und bei Bedarf wieder hervorholen kann. Und die im selben Moment wie ich erfahren hatte, dass es kein Schloss gibt, das der Liebe standhält.
Ich öffnete die Tür. Im Halbdunkel setzte Gabrielle sich im Bett auf. Ich roch diesen wundervollen weiblichen Duft – Parfüm, Schlaf, frische Laken –, und selbst die Eisblumen am Fenster erschienen mir einladend. Ich ging zum Bett. Die Dielen knarrten wie steife Muskeln. Gabrielle schob die Bettdecke zurück. Heute trug sie einen Pyjama. Wir sahen uns in die Augen. Schatten gruben sich in ihre Züge wie Tränen.
Ich hörte einen langen Seufzer. Dann: »Wann hast du dich in sie verliebt, Mike?«
»Das hat sich über lange Zeit entwickelt.«
»Es war anständig von dir, erst zu mir zu kommen.«
»Das war das wenigste, was ich tun konnte.«
Sie lachte bedauernd auf. »Mehr wäre mir lieber gewesen. Aber hör zu: Geh zu ihr. Mach es richtig. Wenn ich schon gegen Kim verliere, dann erlebe mit ihr wenigstens den gewaltigsten Ausbruch von Leidenschaft, den die Welt je gesehen hat. Dann weiß ich, dass zwei Menschen heute Nacht bekommen, was sie verdient haben. Das würde es mir leichter machen, ob du es glaubst oder nicht.«
»Danke.«
»Wir werden niemals Freunde sein. Bei mir heißt es alles oder nichts.«
»Dein Vater war ein Narr«, sagte ich.
»Ich auch. Ich hätte nicht aufgeben sollen.« Ich fühlte das Bedauern einer verpassten Gelegenheit, aber auch das Gefühl der Freiheit, wenn die Entscheidung gefallen ist. Wir fassten uns an den Händen, aber es sprühten keine Funken mehr. Mein Herz schlug nicht schneller. Es war dieselbe Haut, dieselbe Hand. Aber Gabrielle gehörte in gewisser Weise schon zu meiner Vergangenheit.
Ich wandte mich ab. Sie atmete tief durch. Manchmal kann man Hoffnung nicht erklären. Nur glücklich darüber sein.
19
I
ch klopfte leise an Kims Tür und hörte sie sagen: »Komm rein.« Ich stieß die Tür auf und sah, dass das Feuer am Erlöschen war. Im Schein seiner Glut zog sie sich an, streifte gerade einen Pulli über. Ihre Haare waren zerzaust, als versuchte jede Strähne einzeln zu entkommen.
»Tür auf, Tür zu?«, fragte sie. Aber der Sarkasmus gelang ihr nicht so recht. Sie war verletzt.
»Ich musste es Gabrielle sagen, bevor ich hierherkam.«
Das ließ sie innehalten. »Warum?«
Faire Frage. Sie wollte wissen, ob Gabrielle und ich ein Liebespaar gewesen waren. Sie war die Stimme meiner Zukunft. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Es gibt nur dich und mich. Jedenfalls wenn du es so willst.«
»Oh.« Sie klang besänftigt. »Dann sollten wir vielleicht hinausgehen.« Sie dachte an Gabrielles Gefühle, sogar jetzt. Das war einer der Gründe, warum ich sie liebte. Das Haus war hellhörig. Aber Gabrielle hatte recht. Heute Nacht ging es nicht um
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