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Serum

Serum

Titel: Serum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Reiss
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waren noch da. Es war immer noch Sommer. Aber die Welt hatte sich in zwei Kategorien von Menschen aufgespalten. Intuitive Giganten und die anderen.
    Um ein Uhr nachts schläft Amerika normalerweise, aber Georgetown ist eine dieser kosmopolitischen Gegenden, wo die Leute lange wach bleiben. In meinem »verbesserten« Zustand war ich wie ein Hellseher, der plötzlich hinter die Fassade der Menschen blicken konnte. Ein eleganter Mann im Smoking kam auf mich zu, der seinen Saluki an der Leine ausführte. Doch als ich mich auf ihn konzentrierte, stiegen Wellen der Verzweiflung von ihm auf, wie Fliegenschwärme von verdorbenem Fleisch.
    Hat er private oder finanzielle Probleme?
    Eine Stretchlimousine setzte eine Frau in einem seidigen, weißen Abendkleid ab. Sie schien Anfang fünfzig zu sein: platinblondes Haar, schlanke Beine, riemenlose Sandalen. Sie warf der Person im Auto eine Kusshand zu und schenkte ihr ein herzliches Lächeln.
    Sie kann es kaum erwarten, ihn endlich los zu sein, spürte ich im Vorübergehen. Es war keine Spekulation, sondern Gewissheit. All diese Fremden hätten genauso gut Hunde sein können, die mit einem Schwanzwedeln ihre Stimmung signalisierten. Ihre Gedanken konnte ich natürlich nicht lesen. Aber ihre Empfindungen und Absichten waren überdeutlich.
    »Cathy Ann Pratt«, meinte Eisner versonnen, während wir zum Auto zurückgingen. »In der sechsten Klasse war ich in sie verliebt. Aber ich fand nie heraus, was sie von mir hielt. Hatte nicht den Mut dazu. Ich wünschte mir immer, sie hätte eine Lampe auf dem Kopf – rot, wenn sie mich mochte, grün, wenn nicht. Dämlich, was?«
    »Rot und Grün. Sprechen Sie von einem Mädchen oder einer Verkehrsampel?«, fragte Danny.
    Eisner beobachtete den Lieferwagen eines Pizzadienstes gegenüber der Straße. »Probieren wir mal aus, ob wir synchron sind. Der Pizzabote.«
    Wir wandten uns dem Jungen zu, der mit einer Warmhaltebox ausstieg, ein pickeliger Teenager mit schlechter Haltung und leerem Gesichtsausdruck. Aber ich spürte, dass seine Gedanken rasten. Er befasste sich mit etwas, das mit Pizza nicht das Geringste zu tun hatte. Eine Welle kalter Erregung streifte mich. Voll Konzentration und Brillanz.
    Danny sagte: »Mathematik oder Naturwissenschaften. Nichts Persönliches.«
    Eisner meinte: »Das ist ein verdammt ernsthafter Bursche.«
    Ich rief ihm nach: »He! Junge!«
    Er blieb stehen und sah sich um. Weder ängstlich noch neugierig.
    Eisner ging betont wackelig auf ihn zu, als wäre er betrunken. Er verschliff die Silben: »Meine Kumpel und ich waren gerade in einer Bar, verstehst du? Wir haben gewettet. Ein telegraphisches … haha … telepathisches Experiment, verstehste? Du kriegst zehn Dollar, wenn du uns sagst, woran du gerade denkst. Ich behaupte, es ist eine große Rothaarige am Strand, und sie hat nicht viel an.«
    Danny rieb sich theatralisch die Stirn. »Ich glaube, du bist hungrig«, meinte er.
    Ich schüttelte den Kopf. »Casablanca – der Film, richtig?«
    Der Junge steckte den Schein ein, den Eisner ihm hinhielt.
    »Sie haben alle unrecht. Ich dachte über eine Arbeit über rekombinante DNA nach, an der ich gerade schreibe.«
    Er verschwand die Stufen des nächsten Hauses hinauf.
    Wir sahen uns an. »Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt«, sagte Danny.
    Eisner seufzte. »Ich frage mich, ob ich wohl heute noch in Indiana sein würde, wenn Cathy damals scharf auf mich gewesen wäre.«
    Wir kamen zu unserem Acura und fuhren zu dem Parkplatz, wo Ludenhorffs geliebter Cadillac stand. Wir hatten Wagenschlüssel und -papiere und die Karte für die Parkplatzschranke dabei. Außerdem seinen Laptop und die Akten. Ich stellte mir Naturetech vor meinem geistigen Auge vor. Die Anlage würde hell erleuchtet sein, in der Mitte des Geländes auf einem kleinen Hügel, in mehr oder weniger konzentrischen Kreisen umgeben von dichten Bäumen und einem Elektrozaun innerhalb der 150 Meter weiter außen verlaufenden Stacheldrahtabsperrung. In der Umgebung lagen das Gestüt, eine Satellitenfirma und ein Maisfeld. Das Flutlicht brannte die ganze Nacht lang, und Wächter patrouillierten auf dem Gelände.
    Drinnen – da sich laut Ludenhorffs Unterlagen seit meiner Zeit nichts geändert hatte – würden wir sich ergänzende Sicherheitssysteme vorfinden, wie sie bei Lenox Standard waren: Bewegungsmelder, LED-Kameras, ein mit Kartenschloss gesichertes Labor und ein Moseler-Safe mit vierstelliger Kombination. Die hatten wir aus Ludenhorffs

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