Serum
cremefarbenes, wadenlanges Kleid, Pumps und ein passendes Damensakko – eher konservativ für ein angeblich wildes Mädchen. Schlanke Beine, schmale Hüften und kaum apfelgroße Brüste. Sie hatte das Gesicht eines Cupidos, mit rundem Kinn, kleiner Nase und dem Hauch eines Schmollmunds.
Ihre schwarzen Augen begegneten meinem Blick, und einen Augenblick lang schien sie verwirrt, als könnte sie mich nicht einordnen.
»Miss Dwyer?«
Sie sah mich groß an und blieb stehen. Es gibt Frauen, neben denen der Rest der Welt einfach verblasst. Von nahem sah sie sogar noch besser aus. Sie hatte hohe Wangenknochen. Ihre gebräunte Haut wirkte so perfekt wie ihre Haltung. Das pechschwarze Haar schien das Licht einzufangen, lag ihr eng um den Kopf und fiel in einem langen Zopf auf den Rücken. Es war eine Studie in gebändigter Wildheit. Ich war mir der neiderfüllten Blicke der anderen Männer in der Lobby bewusst.
Ich dachte: Warum ist sie hier, nicht in New York?
»Ich bin Mike Acela, Miss Dwyer. Ich arbeite für Ihren Vater. Es tut mir leid, was gestern Nacht geschehen ist.«
Ihr Blick ruhte etwas zu lang auf mir. Dann sagte sie: »Ich habe es soeben erfahren.« Das war eigenartig, schließlich kam Dwyers Tod schon seit Stunden in den Nachrichten. Als nächste Angehörige hätte sie von der Polizei benachrichtigt werden müssen. Sie fügte hinzu: »Ich habe kein Handy. Ich war in Middleburg, in einem Wellnesshotel. Tom Schwadron hat es mir gerade eben erzählt. Ich bin unterwegs zum Flughafen.«
Was hat sie mit Schwadron zu schaffen?, fragte ich mich.
»Hat Keating Sie geschickt, Mr Acela?«
Ah, die Arroganz der Reichen. Man begegnet ihnen tausend Kilometer von zu Hause entfernt, und sie nehmen automatisch an, dass sie der Grund des Kommens sind. Aber ich mochte ihre Stimme. Meine Kehle war bei ihrem Anblick trocken geworden, und ich fühlte eine leise Regung im Unterleib. Seit ich ein Teenager war, hatte ich auf keine Frau mehr so stark reagiert.
»Eigentlich möchte ich mit Mr Schwadron sprechen«, sagte ich. Ihre Gegenwart machte mich linkisch. »Wir von Lenox stehen alle zu Ihrer Verfügung. Ihr Vater hat immer mit Liebe von Ihnen gesprochen.«
Gelogen. Er hatte überhaupt nie von ihr gesprochen. Aber ich redete mir ein, dass ich mit ihr über ihren Vater reden musste. Sie war eine Erbin. Erben sind immer verdächtig. Was sie über Dwyer wusste, könnte mir helfen, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Aber ich konnte nicht offiziell ermitteln, ohne meinen neuen Boss vor den Kopf zu stoßen. Also hatte ich beschlossen, ab jetzt Unterhaltungen damit zu beginnen, dass ich die »netten Worte« des Vorsitzenden über meinen Gesprächspartner zitierte.
Nicht einmal Keating konnte daran Anstoß nehmen, so hoffte ich.
»Ich war gestern Nacht auf ein paar Drinks bei ihm«, fügte ich hinzu. »Er hat von Ihnen erzählt.«
»Ach, der Mike Acela sind Sie. Der Sicherheitschef.«
Ja.
»Der Mann, nach dessen Ankunft plötzlich eine Menge Topmanager den Hut nehmen mussten.«
Mhm, dachte ich. Damals hatten Danny und ich illegal Wanzen installiert, Telefone angezapft, Sekretärinnen bestochen und waren sogar ins Haus des Leiters der Finanzabteilung eingebrochen, um Beweismaterial gegen ihn zu finden. Frei von den Einschränkungen der normalen Strafverfolgungsbehörden hatten wir innerhalb von zwei Monaten erreicht, wozu das FBI Jahre gebraucht hätte.
»Alles vollkommen legal, Miss Dwyer.«
Plötzlich streiften ihre kühlen Finger mein Handgelenk. Es war wie ein elektrischer Schlag.
»Aber Sie haben mich gerade angelogen.« Ihre dunklen Augen blitzten. »Mein Vater hat nichts von Liebe gesagt.«
Ich spürte, wie ich errötete, und meinte lahm: »Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen.«
»Das können Sie gar nicht, weil Sie nicht wüssten, wie. Mein Vater hatte keinen Schimmer, was Liebe bedeutet«, sagte sie entweder brutal aufrichtig oder mit unterdrücktem Zorn. »Aber er konnte streunende Hunde erkennen, die ihm treu ergeben sein würden. Kim Pendergraph. Vielleicht auch Sie. Menschen, die ihn vorbehaltlos lieben würden, ohne Gegenliebe.«
»Ich mochte und respektierte ihn, Miss Dwyer.«
»Dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse«, erwiderte sie, als hätte ich sie verletzt.
Sie wandte sich ab und stakste mit diesem scherenartigen Gang davon, den zornige Frauen bis zur Perfektion beherrschen. Erst draußen holte ich sie wieder ein. Sie winkte einem Taxi. Als ich mich vor sie hinstellte, ließ sie die
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