Serum
Farbe der eckigen Sonnenbrille. Er trug ein braun-grünes Baumwollhemd über kurzen Jeans und an den Füßen Reeboks. Ein Buch mit dem Titel Unser Gehirn lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch zwischen einem Sammelsurium von Topfpflanzen, wissenschaftlichen Texten, Zeitschriften, Flugblättern und verstreuten Disketten.
Ich hatte als Student und später im Forensikunterricht beim FBI viele Biologiekurse belegt, aber ich war nie so interessiert daran gewesen wie in diesem Augenblick.
»Lange Zeit glaubte die Wissenschaft, dass das Gehirn eine einzige Funktionseinheit ist«, erklärte Professor Whiteagle, während er umblätterte. »Aber mehr und mehr kommen wir zu der Erkenntnis, dass verschiedene Teile regelrecht im Clinch miteinander liegen. Vielleicht ist es gerade das, was unseren Verstand schärft.«
Er drehte das Buch um, um uns ein Diagramm des Gehirns zu zeigen. »Das limbische System und der Neocortex sind solche Teile. Die Amygdala kontrolliert das emotionale Gehirn. Der Neocortex steht für die Logik. Wenn Sie auf der Highschool einen Multiple-Choice-Test machen und Ihre Intuition Ihnen sagt, dass Antwort A richtig ist, spricht Ihre Amygdala zu Ihnen. Und wenn Sie kurz darauf Ihre Wahl anzuzweifeln beginnen, mischt sich der Neocortex ein. Die Chancen stehen gut, dass Sie einen Fehler machen, wenn Sie Ihrem Impuls nicht folgen. Jeder hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass der erste Gedanke der richtige war.«
Das Schaubild zeigte ein menschliches Gehirn, das unten in einer stielartigen Ausbuchtung endete, die wie ein Stromkabel zur Wirbelsäule führte.
Ich erkannte die Hemisphären und die verbindenden Systeme, aufgenommen in verschiedenen Schichten. Der Gyrus cinguli sah aus wie eine Schlange, die sich um die tieferen Bereiche zusammenrollte: den Hippocampus, den eiförmigen Thalamus und einen kleinen tropfenförmigen Punkt mit der Beschriftung »Amygdala«.
Das war der Teil, von dem Ray Teaks in Maryland gesprochen hatte.
»Kennen Sie den alten Spruch, dass das Gehirn nur zehn Prozent seiner Leistungsfähigkeit nutzt?«, fragte Dr. Whiteagle und blickte erwartungsvoll von einem zum anderen wie ein guter Dozent.
»Sicher«, erwiderte ich. »Und dass wir Supermenschen wären, wenn es uns nur gelänge, die ungenutzten neunzig Prozent zu aktivieren.«
»Das ist alles Unsinn. In Wahrheit arbeitet das Gehirn so effizient, dass es nur zehn Prozent auf einmal braucht. Aber fünf Minuten später können es ganz andere zehn Prozent sein. Wir nutzen unsere Hirne ausgezeichnet.«
»Und?«
»Ausgehend von dem, was Sie mir erzählt haben und was auf dieser Disk steht, würde ich sagen: Ihre Droge ermöglicht nicht den Zugriff auf ungenutzte Hirnareale. Viel wahrscheinlicher und faszinierender ist – rein theoretisch natürlich –, dass sie das Gehirn in einen Zustand versetzt, wie er beispielsweise auftritt, wenn der geniale deutsche Komponist Werner Lutz eine Symphonie schreibt.«
»Wer?«, fragte ich. »Symphonie?«
»Sehen Sie sich diese Hirnscans an«, sagte Dr. Whiteagle und schlug eine andere Seite in seinem Buch auf. »Diese wurden letztes Jahr in Berlin mit einem fMRT-Gerät gemacht. Sie zeigen Lutz’ Gehirn.«
Verständnislos betrachtete ich eine Reihe von oben nach unten angelegten Querschnitten des Gehirns, überlagert von einem Gitternetz mit Koordinatensystem. Zahlen oben und an der Seite gestatteten es dem Forscher, die Lage jedes Teils innerhalb des Rasters genau zu beschreiben, als hätte das Gehirn Längen- und Breitengrade wie eine Landkarte.
Es sah in jedem Scan weißlich aus, während manche Areale graue Punkte oder Flecken zeigten wie bei einem Rorschachtest. In einigen der Scans gab es sehr viele dunkle Bereiche. Im letzten sah ich hingegen nur einen einzigen stecknadelkopfgroßen Punkt.
»Das hier ist genau genommen ein Abbild der geistigen Aktivität in Lutz’ Kopf«, dozierte Dr. Whiteagle genüsslich. »Er erklärte sich bereit zu komponieren, während er in dem fMRT-Gerät lag, damit die Ärzte dem Sitz der Kreativität nachspüren konnten. Das fMRT maß die Blutzufuhr zu verschiedenen Teilen seines Hirns, bevor er mit der Arbeit begann, und anschließend während der Arbeit. Durchblutungsveränderungen – repräsentiert von den grauen Schatten – zeigen uns, dass der jeweilige Teil des Gehirns gerade aktiv ist.«
Er wies auf eine Stelle im obersten Foto. »Dieser Fleck bedeutet, dass er gerade seine Augen benutzte, um sich in der fMRT-Röhre umzusehen. Er
Weitere Kostenlose Bücher