Serum
geeignete Leute, Leute wie wir, die für Oblige prädestiniert sind?«
15
A
uf dem Weg zur Party überfiel Gabrielle endlich die Trauer. Ohne Vorwarnung. Wir fuhren auf dem Cross Bronx Expressway nach Norden. Sie hatte gerade die Namen von Leuten aufgezählt, denen ich bei dem Wettkochen begegnen würde, sie kurz skizziert und kleine Details erwähnt, die sich als nützlich erweisen konnten.
»Wollen Sie mit Keating und Schwadron getrennt sprechen?«, hatte sie gefragt.
Ich zuckte die Achseln. »Kommt drauf an. Beim FBI haben wir uns die Typen immer separat vorgenommen. Keating und Schwadron können sich nicht ausstehen. Dass sie sich zusammengetan haben, um Dwyer aus dem Geschäft zu drängen, das lasse ich mir eingehen. Dass sie beide seine Ermordung befohlen haben? Schon weniger. Vielleicht wenden sie sich gegeneinander, wenn ich die richtigen Fragen stelle.«
»Außer sie waren beide beteiligt.«
»Das muss ich riskieren. Ich muss improvisieren.«
Sie hatte ihre Beschreibung der Gäste fortgesetzt. Einige kannte ich aus den Nachrichten: Politiker der extremen Rechten, die selbst das Wall Street Journal als Oligarchen bezeichnete und die das Land gerne hundert Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt hätten.
Dann verstummte Gabrielle plötzlich, und der Saab trudelte auf die rechte Spur, die glücklicherweise leer war. Ich sah, dass sie weinte.
»Es tut mir leid, dass er gestorben ist«, sagte ich.
Sie lenkte den Wagen auf die Standspur und hielt an – das lag zwar im Interesse der Verkehrssicherheit, konnte aber eine Polizeistreife auf uns aufmerksam machen.
Vorbeifahrende Autos wurden langsamer. Neugierige Blicke streiften uns.
Gabrielle legte die Stirn aufs Lenkrad. Ich berührte ihre Schulter, spürte die Wärme ihres Körpers durch den dünnen Baumwollstoff. Sie zitterte so unmerklich, dass es mir erst nach einiger Zeit auffiel.
»Ich war so wütend auf ihn, sogar noch bei der Beerdigung«, sagte sie.
Lass es raus, dachte ich.
»Er war ein verdammter Egoist, der immer alles unter Kontrolle haben musste.«
Ich rieb ihre Schulter. Meine Finger streiften ihren Hals.
»Er dachte sein ganzes Leben lang nur an sich selbst. Warum weine ich also um ihn?«
Ich ließ meine Hand, wo sie war. Die Klimaanlage summte. Ich hörte das entfernte tschopp-tschopp eines Verkehrshubschraubers und hoffte, der Pilot würde der Polizei nicht ein liegengebliebenes Fahrzeug melden.
Gib ihr noch ein paar Minuten.
Sie weinte lautlos, die schwarzen Haare fielen wie ein Fächer über ihr Gesicht und das Lenkrad. Gleich musste ich das Steuer übernehmen. Selbst eine zufällige Verkehrskontrolle konnte mich ins Gefängnis bringen. Dann richtete sie sich auf. Ihre Augen waren gerötet. Ich kramte ein leinenes Taschentuch aus ihrer Cocktailtasche.
»Warum haben Sie meinem Vater geholfen und Ihren Hals riskiert?«, fragte sie, während sie ihr Gesicht im Rückspiegel begutachtete und die Tränen wegtupfte. »Das mussten Sie nicht.«
»Ich vertraute ihm. Er half mir, wieder an etwas zu glauben, als ich desillusioniert war. Es lag eine gewisse Klarheit in der Art, wie er die Welt sah. Jedenfalls dachte ich das«, antwortete ich.
»So naiv kann doch niemand sein.«
»Das sagen Sie mir jetzt …«
Sie lächelte mühsam und stellte den Rückspiegel wieder auf die Straße ein. Ihre Hand glitt zum Schalthebel.
»Es war dumm von mir, anzuhalten.«
»Nein. Soll lieber ich fahren?«
Der Saab rollte an, knirschte über Glassplitter und Asphaltbrocken. Gabrielle fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Ihre Hand suchte die meine. Mit ineinander verschränkten Fingern fuhren wir schweigend weiter.
Es war ein sehr intimer Moment, und doch bedeutete diese Berührung nur Vertrauen, Trost, Freundschaft. Nicht mehr.
Das wilde Mädchen verwandelte sich in eine Frau, die weniger geheimnisvoll wirkte, weniger wie ein Traumbild. Und auf seltsame Weise war vor sechs Stunden am Strand genau das Gegenteil mit Kim Pendergraph geschehen.
Kim – meine alte Vertraute – hatte plötzlich die Anziehungskraft einer Geliebten gewonnen.
Mir kam ein seltsamer Gedanke. Hatte die Droge mich an beiden Frauen Eigenschaften entdecken lassen, die mir zuvor verborgen geblieben waren?
Wir erreichten Westchester. Die Straße wurde besser, das Industriegebiet blieb hinter uns zurück.
»Mögen Sie überhaupt Chili?«, fragte Gabrielle. Sie klang wieder normal, fast kokett sogar.
»Kommt auf den Koch an.«
Ihre Hand löste sich von meiner,
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