Settlers Creek
den alten Gräbern zur Kirche hoch. Der Friedhof lag im Schatten. Ohne an künftige Generationen zu denken, hatte man vor vielen Jahren Feigenbäume an die Nordseite gepflanzt. Diese waren inzwischen höher als das Kreuz auf dem Kirchendach. Box hatte sich mit dem Pfarrer für ein Uhr verabredet, doch der war nirgends zu sehen. Er blieb stehen und sah sich um. Die Kirchenmauern bestanden aus Blöcken von Vulkangestein. Das Dach war mit Schieferplatten gedeckt, die breiten Vorsprünge boten den darunter wachsenden Lilien Schutz.
Als Junge hatte er hier mit seinen Schulkameraden gespielt. Damals lag nur die Pferdekoppel der Marshalls zwischen der Kirche und der Nordgrenze seiner Großeltern. Leichter zu überqueren als jede Straße. Und allemal sicherer. In den Pausen zwischen den jeweils angesagten Spielen las Box die Namen auf den Grabsteinen. Immer wieder begeisterte es ihn, wenn jene moosüberwachsenen eingemeißelten Buchstaben – S-A-X-T-O-N – dieselben waren, die er mit Bleistift vorn auf seine Schulhefte schreiben mußte.
Box ging zu einer Grabstätte, deren uralte Deckplatte einen halben Meter in die Erde eingesunken war und ein gezacktes Muster aus Rissen aufwies. Umgeben war sie von einem niedrigen Eisengitter, dessen senkrechte Stäbe oben mit einer verrosteten heraldischen Lilie verziert waren. Sein Ururgroßvater, Randall mit den Pferden und dem Staub, lag hier begraben. Auch wenn er ... Box mußte kurz überlegen ... gut dreißig Jahre vor ihr gestorben war, teilte Randall die Stelle wie ein zerbrochenes Ehebett mit seiner Frau, dem Dienstmädchen Lillian. Vier ihrer sieben Kinder mußten auch hier in der Nähe liegen. Zwei davon hatten winzige Gräber, die Kinder waren vor ihrem ersten Geburtstag gestorben.
Zwei Gräber von Randall und seiner Frau entfernt lag eine weitere Saxton: Pops jüngere Schwester Mary Rose. Sie war bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben, mit gerade mal siebzehn Jahren. Ihr Grab befand sich zwischen den Wurzeln der letzten Kiefer in der Reihe.
Box ging an der Kirche vorbei in den oberen Teil des Friedhofs, der Mitte der siebziger Jahre angelegt worden war. Ein sanft ansteigender Rasen und auch jetzt, nach über dreißig Jahren, noch längst nicht voller Gräber. Nur Menschen mit einer familiären Beziehung zu Governors Bay konnten hier bestattet werden. Und doch sah er zwei frische Erdhügel, die bei seinem letzten Besuch noch nicht dagewesen waren. Einer war schon ein wenig eingefallen, und Unkraut begann auf ihm zu wachsen.
Box ging über den Rasen dorthin, wo zwei schwarze Granitgrabsteine nebeneinander standen. Jeden zierte eines von Dees Einweckgläsern mit trockenen Proteen. Das rechte Grab war das seines Großvaters Pop.
Auf dem linken Grabstein stand mit weißer Farbe nur: »Paul Augustus Saxton 1960–1978«.
Zehn
Box drückte langsam den Abzug durch. Hinter sich hörte er seinen Großvaters flüstern: »Langsam, langsam, nur ganz leicht drücken.«
Beim Knall des Schusses liefen die übrigen Tiere weg: wilde Sprünge im Zickzack durch das gelbbraune Tussockgras. Es waren drei, ein junges Reh und zwei Böcke. Sie zeichneten sich deutlich gegen den dunklen Wall aus Bergsüdbuchen ab, als sie den Hang hinabflohen. Eine Weile rannten sie parallel zum Waldrand, bis sie jäh in ein schmales Bachbett ausbrachen und zwischen den dunklen Baumstämmen verschwanden. Das Echo des Schusses hallte noch immer von der gegenüberliegenden Talwand wider.
Box blieb auf dem feuchten Boden liegen. Sein Herz schlug heftig gegen die Erde, das Gewehr lag vor ihm, auf seinen Rucksack gelehnt. Sein Großvater kauerte etwa eineinhalb Meter hinter ihm. Box spürte den Rückschlag des Gewehrs an seiner Schulter fast wie eine Prellung.
»Schau durchs Glas! Was siehst du?«
Als er sein Auge wieder gegen das Zielfernrohr drückte, erblickte Box die Hinterläufe des Rehs, das er geschossen hatte. Es lag im nassen Tussockgras. Er sah kein Zeichen einer Bewegung, lediglich die Grashalme schwankten leicht im Westwind.
Von hinten kam wieder das Flüstern seines Großvaters. »Bleib, wo du bist. Laß dir Zeit, und schau genau hin.«
»Warum? Ich habe doch getroffen.«
»Ein Tier, das du für mausetot hältst, kann immer noch plötzlich aufspringen und im Wald verschwinden. Dann müssen wir es verfolgen, was Stunden dauern kann, sogar den ganzen Tag. Es ist viel einfacher, ruhig liegenzubleiben und mit einer zweiten Kugel im Lauf ein paar Minuten abzuwarten, was passiert.
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