Seuchenschiff
»Es gab eigentlich nur eine einzige Person, die unserer Meinung nach fähig war, diese Position glaubwürdig auszufüllen.«
»Wen?«, fragte Kovac.
»Nun, mich, mein lieber Freund«, sagte Jenner. »Nur erkennen Sie mich nach den kosmetischen Operationen an meinem Gesicht, mit den Kontaktlinsen und nach fast zwanzig Jahren sicher nicht mehr.«
Kovac starrte Jenner an, als könnte sein bohrender Blick die Verkleidung durchdringen. »Ich weiß nicht …« Seine Stimme versiegte.
»Ich bin Lydell Cooper, Mr. Kovac.«
»Aber Sie sind tot«, platzte Kovac heraus, ohne lange zu überlegen.
»Gewiss weiß jemand mit Ihrer Erfahrung, dass niemand wirklich als tot betrachtet werden kann, ehe seine sterbliche Hülle gefunden wird. Ich bin fast mein ganzes Leben lang mit Begeisterung gesegelt. Der Sturm, in dem ich angeblich umgekommen bin, war verglichen mit den Unwettern, die ich überstanden habe, völlig harmlos.«
»Ich verstehe nicht.«
Severance ergriff das Wort. »Lydell hat mit seinen Schriften den Grundstein für den Responsivismus gelegt und uns unsere grundlegenden Lehrsätze geliefert, sozusagen den Kern dessen, was wir alle glauben.«
»Aber ich bin kein Organisator«, sagte Cooper. »Das ist etwas, worin mir Thom und meine Tochter Heidi überlegen sind. Ich hasse öffentliche Ansprachen, Konferenzen und all die lästige Alltagsroutine. Als nun die Bewegung immer größer wurde, übernahm ich nach und nach eine andere Rolle, nämlich die eines Beschützers. Indem ich als unser bedeutendster und schärfster Kritiker auftrat, konnte ich jeden im Auge behalten, der versuchte, uns zu schaden.«
Schließlich fand Kovac seine Stimme wieder. »All die Leute, die Sie gegen uns eingestellt haben, wurden von Ihnen reprogrammiert?«
»Sie wären sowieso ausgetreten«, erwiderte Dr. Cooper unbekümmert. »Was ich tat, war, dass ich ihre Kritik an uns milderte. Sie hatten zwar sozusagen den Schoß unserer Bewegung verlassen, aber im Wesentlichen verriet niemand viel über uns.«
»Was war denn das für eine Sache in Rom?«
»Das war eine knappe Geschichte«, gab Cooper zu. »Wir hatten keine Ahnung, dass Kyle Hanleys Vater über die Mittel verfügte, ein Rettungsteam zu engagieren. Ich rief Thom an, sobald ich wusste, dass sie ihn zum Deprogrammieren nach Rom bringen würden. So konnten Sie auf dem Posten sein, und später gab ich den Namen des Hotels und die Zimmernummer durch, damit sie ihn zurückholen konnten. Wir wussten nicht genau, wie viel der Junge wusste oder was er seinem Vater berichtet hatte.«
»Wie sieht es übrigens damit aus?«, fragte Thom Severance.
Kovac senkte den Blick. Sein Versagen Severance gegenüber eingestehen zu müssen, war schon schlimm genug, aber er konnte sich unmöglich vor dem großen Dr. Lydell Cooper, dem Mann, dessen Philosophie seinem Leben überhaupt erst einen Sinn gab, dazu äußern.
»Zelimir?«
»Er ist entkommen, Mr. Severance. Ich weiß nicht wie, aber er ist aus seiner Zelle rausgekommen und hat es bis ans Tageslicht geschafft. Dabei hat er einen Mechaniker getötet und zwei andere schwer verletzt.«
»Ist er noch auf der Insel?«
»Er stahl gestern ein ATV. Es herrschte ein heftiger Sturm, und die Sicht betrug nur wenige Meter. Offenbar hat er die Klippe nicht gesehen. Eine Suchmannschaft hat die Maschine gefunden, als heute Morgen die Ebbe einsetzte. Von der Leiche fanden sie jedoch keine Spur.«
»Niemand ist tot, solange man seine sterblichen Überreste nicht gefunden hat«, tönte Lydell Cooper.
»Sir, Sie haben meine größte Hochachtung und Verehrung«, sagte Kovac, »aber es ist doch sehr viel wahrscheinlicher, dass dieser Hanley während eines Unwetters einen Unfall hatte. Er befand sich in einem ziemlich schlechten Zustand, als er flüchtete, und ich bezweifele sehr, dass er auch nur eine Nacht und einen Tag ungeschützt vor den Elementen durchhalten konnte.«
Er sagte nichts von dem bioelektrischen Implantat, das er gefunden hatte, und den Schlussfolgerungen, die sich zwangsläufig daraus ergaben. Denn er wollte auf keinen Fall Zweifel säen. Die Suchtrupps kämmten noch immer die private ägäische Insel der Responsivisten durch, und falls sie den Flüchtigen aufstöberten, hatten sie Befehl, ihm dies umgehend zu melden. Kovac würde sich die Informationen verschaffen, die sie brauchten, und Hanley entsorgen, ehe seinem Ruf noch weiterer Schaden zugefügt werden konnte. Er fügte hinzu: »Natürlich werden wir weiter nach ihm
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