Sex ist verboten (German Edition)
zuzuhören.
»Der Buddha antwortete dem Schüler mit einer Gegenfrage: ›Wenn jemand von einem Pfeil getroffen wird, ist das schmerzhaft?‹
›Ja‹, sagte der Schüler.
Und dann noch eine Frage: Wenn dieser Jemand von einem zweiten Pfeil getroffen wird, ist das schmerzhaft?‹
›Natürlich‹, sagte der Schüler.
Da sagte der Buddha: ›Gegen den ersten Pfeil kann man nichts tun. Das Leben ist dukkha. Man begegnet zwangsläufig dem Leid. Der zweite Pfeil allerdings …‹«
Harper hält inne.
»›Der zweite Pfeil ist … optional.‹«
Er schweigt, Ende der Geschichte, wie es scheint. Ich habe den Eindruck, er hat sie schon tausend Mal erzählt.
»Optional? Der Buddha hat optional gesagt?«
»Ja. Optional.«
»Ich staune, dass es das Wort damals schon gab. Auf Sanskrit?«
Harper zieht eine Augenbraue hoch. Er lächelt. »Optional«, wiederholt er. »Der zweite Pfeil ist optional. Die Meditation kann Ihnen helfen, diese Wahl zu treffen. Sie können den zweiten Pfeil zurückweisen.«
Lange Pause. Eine volle Minute womöglich. Schließlich sagt er: »Sie haben noch vier Tage zum Arbeiten. Bewahren Sie sīla. Entwickeln Sie samādhi und paññā. Vor allem aber stärken Sie ihren Gleichmut im Wissen von anicca, dem Gesetz der Unbeständigkeit. Arbeiten Sie hart, dann werden Sie zwangsläufig den Lohn ernten. Zwangsläufig.«
Ich hätte ihn erwürgen können.
Ziemlich gute Beschreibung von Harper. Als ich hier ankam, dachte ich, der Typ wäre viel zu gewöhnlich und langweilig, um das Dasgupta-Institut zu leiten. Wie ein Buchhalter, oder ein Berater im Jobcenter. Selbst beim Meditieren sieht er aus wie ein Verwaltungsangestellter, dem man den Drehstuhl abgenommen hat. Eines Morgens ist er ins Büro gekommen und musste feststellen, dass man ihm statt seines Stuhls ein Zafu hingelegt hatte. Aber dann entdeckt man plötzlich noch eine andere Seite an ihm: man erkennt, dass dieser Langweiler eine tiefe Ruhe in sich hat. Dann verändert er sich. Ein paar Sekunden lang bekommt man eine Ahnung, warum er ein Meditationszentrum leitet. Vermutlich ist das der Buddha-Körper in ihm, der angeblich in uns allen steckt. Ein ruhiger Buddha-Körper im Innern der wilden, kettenrauchenden, aufgedrehten Beth. Kann man sich das vorstellen? Mi Nu ist das Gegenteil. Mi Nu kommt nie aus ihrem Buddha-Körper heraus. Eine in Luft gemeißelte Statue, das ist gut. Nur ganz selten erscheint ein Grinsen, ein sexy Zappeln, ein Aufblitzen von Lust. Faszinierend, weil man überhaupt nicht damit gerechnet hätte.
Bin so oft um die Wiese herumgelaufen, dass ich nach der letzten Meditation beschloss, es im Dunkeln zu wagen. Ich wollte in Bewegung sein statt allein in meinem Zimmer. Ich habe es so satt, darüber nachzudenken, was passiert, wenn ich nach dem Retreat nach Hause komme. Bin im dunklen Abenddunst über die Wiese gelaufen und dann weiter in das kleine Wäldchen am unteren Ende. Vollkommen blind. Wie viele Jahre ist es her, seit ich so etwas gemacht habe, mir nachts den Weg zwischen Bäumen hindurch ertastet habe und dabei immer wieder gegen etwas gestoßen bin? Zwanzig? Dreißig? Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fühlte es sich überraschend ähnlich an wie beim Meditieren, manweiß nie genau, wo man ist, obwohl man sich theoretisch an einem wohlbekannten Ort befindet. In sich selber. Nur, dass es dunkel ist. Vielleicht kennt man sich selbst überhaupt nicht. Dann, an der Stelle, wo der Weg aus dem Wald kommt und wieder auf die Wiese führt, streifte ich plötzlich jemanden, der mir entgegenkam. Was für ein Schreck. In der stockdunklen Stille. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich Angst. Ich hatte ihn weder kommen sehen noch gehört. Seltsam. Ich vermute, dass es ein Er war, da wir uns auf der Seite der Männer befanden. Wie auch immer, der andere schien genauso überrascht wie ich, ich hörte, wie ihm der Atem stockte, aber wir hielten uns beide an das Schweigegelübde, und er lief eilig weiter. Dann das wirklich Verrückte: Ich bildete mir plötzlich ein, er sei ich. Ich war mit mir selber zusammengestoßen! Nachts im Dunkeln. Dann hatten wir uns in zwei geteilt und er war verschwunden. Gott, schön wär’s. Schön wär’s, wenn das ginge. Allerdings müsste ich mich dann wohl entscheiden, welches der beiden Ichs ich sein wollte.
Ich gehe auch sehr gern nachts auf der Wiese spazieren. Als es noch kalt war, vor etwa zwei Monaten, nahm ich manchmal eine heiße Tasse Tee mit, hielt sie mit beiden Händen fest,
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