Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
Vergessenheit geraten. »Es gab viele Schwule, die an der Revolution teilnahmen, aber niemand achtete darauf. Ganz ehrlich, ich vergaß, dass ich schwul war. Ich war nur noch Ägypter. Menschen wurden verwundet, starben, alle waren nur noch Ägypter, sonst nichts. Es gab keinen Unterschied zwischen Schwulen und Heteros; niemand spürte einen Unterschied.«
Die Zeit unmittelbar nach dem Aufstand war für Munir ein »Paradies«, unter anderem aufgrund des neu errungenen Respekts von Freunden und Nachbarn; früher wegen seiner weichen Art verachtet, bewies sein Einsatz auf dem Tahrir-Platz allen bösen Zungen seine Männlichkeit. Weitaus einschneidender aber war, dass Polizei und Sicherheitskräfte verschwanden und das Stadtzentrum von Kairo zu einer Art Spielplatz wurde. Überall wurden Privatpartys gefeiert, die in bestimmten Bars und Klubs eine kaufkräftige schwule Klientel anlockten. »Die Schwulen fühlen sich jetzt etwas freier«, bemerkte Munir, als wir in einem vollen Straßencafé in Borsa saßen, wo in den Straßen geschäftiges Treiben herrschte. Wie gerufen schlenderten zwei makellos gestylte, sexy gekleidete Männer über zwanzig Hand in Hand an uns vorbei, einander ins Ohr flüsternd. »All diese Leute da« – Munir wies mit der Hand über die gesamte Länge des Cafés – »sind gay.«
Die Frage ist, wie man dieses flüchtige Gefühl der Freiheit erhalten und ausweiten kann. Sie treibt Hossam Bahgat schon lange um; seine NGO, die Ägyptische Initiative für Grundrechte der Person (EIPR), kämpft seit Jahren für die rechtliche Anerkennung von persönlichen Grundfreiheiten in allen Bereichen – einschließlich des Schlafzimmers. EIPR ist eine der wenigen NGOs in Ägypten, die sich für sexuelle Rechte einsetzen und zum Beispiel homosexuellen Männern, die bei polizeilichen Razzien aufgegriffen werden, einen Verteidiger besorgen oder Behörden wegen erzwungener Jungfräulichkeitstests zur Rede stellen.
Für Bahgat war der Tahrir-Platz die Verwirklichung all dessen, wofür EIPR gekämpft hat. »Es war ein Moment, in dem offen zutage trat, dass wir eine vielfältige Gesellschaft sind und Menschen ein Recht darauf haben zu tun, was ihnen Spaß macht, solange sie anderen keine Gewalt antun oder in die Privatsphäre anderer eindringen«, sagte er mir. »Aber es ist nicht so, als wäre das wahre Wesen der Ägypter ans Tageslicht gekommen«, schränkte er ein. »Nein, dies war ein Moment, ein guter Moment – wir müssen ihn lediglich am Leben erhalten.«
Menschenrechte sind zurzeit ein heißes Thema in Ägypten, und Bahgats Telefon steht nicht mehr still, seit Gruppen aus Europa und Amerika unbedingt mit ihm zusammenarbeiten wollen. Auch wenn das Interesse und die Gelder aus dem Ausland willkommen sein mögen, befürchtet Bahgat, dass der Fokus auf »Schwulenrechte« – ein zentrales Anliegen westlicher Gruppen – das übergeordnete Ziel des Aufbaus einer Gesellschaft, die persönliche Grundfreiheiten für alle Bürger anerkennt und respektiert, untergraben könnte. »Es gibt einen globalen Kampf um die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen. Diese globale Bewegung interessiert sich sehr stark für die arabische Welt. Sie sind viel mächtiger und kapitalkräftiger als die kleine Gruppe von Aktivisten, die glauben, wir sollten darauf hinarbeiten, dass das Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen und gesellschaftliche Vielfalt respektiert werden«, bemerkte er. »Ich bin zunehmend davon überzeugt, dass wir, je mehr Gelder sie hier investieren und je stärker sie sich einmischen, umso weniger Freiraum haben, sexuelle Rechte im Rahmen persönlicher Selbstbestimmung und der Vielfalt in einer pluralistischen Gesellschaft zu diskutieren.«
Wenn man einen Beweis dafür wolle, so Bahgat, solle man sich nur die sich abzeichnende Landschaft des sexuellen Aktivismus in der arabischen Welt ansehen. »Wenn wir eine Karte der Gruppen erstellen, die in der Region an diesen Fragen arbeiten, findet man vielleicht sieben oder acht Projekte, die MSM [Männer, die Sex mit Männern haben]/LGBT gewidmet sind, und vielleicht einen oder zwei Akteure, die sich mit Sexualität allgemein befassen«, meinte Bahgat. »Nennen Sie mir eine Organisation, die sich mit der Sexualität heterosexueller Frauen, der Sexualität von Jugendlichen oder der Sexualerziehung beschäftigt … Sie werden im Vergleich zu den Mitteln, die für LGBT bereitgestellt werden, nur sehr wenige finden.«
Was Veränderungen angeht, steht Bahgat
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