Sex und Folter in der Kirche
»Jesus« kann man stehen, wie man will.
Soll aber über Jesus aus Galiläa gesprochen und Golgotha gedeutet werden, muß ein Minimalkonsens über drei Fakten hergestellt sein: Jesus existierte, Jesus hatte Jünger, Jesus starb am Kreuz. Während das erste Faktum Voraussetzung für die beiden anderen ist (und hier vernachlässigt werden kann), bedingen sich die beiden anderen. Denn Jesu schmählicher Tod war nicht nur eine Folter ausgesuchter Grausamkeit an einem einzelnen, sondern auch ein Desaster für eine ganze Gruppe. Diese Katastrophe mußte sobald wie möglich bewältigt werden: von diesen Jüngern oder doch vom
aktiveren, gläubigeren Teil der Gefolgschaft. Die vielfältigen Versuche zur Verdrängung, Bewältigung, Sublimierung des Gesche-
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hens, wie sie im Lauf der Jünger-Geschichte unternommen wurden, müssen an dieser Stelle nicht aufgenommen werden. Wichtig sind nur ein paar Hauptlinien.
Am bedeutsamsten erscheint mir die Frage, wie sich die Jünger den Anteil des Gottes »Jesu« an den schrecklichen Ereignissen vorstellten. Da es sich um eine glaubensgebundene Gruppe mit
typisch religiösen Zielsetzungen und Formen der Bewältigung handelte, lag es nahe, daß »unser Gott« eine ausschlaggebende Rolle spielte. Die Verfasser des Neuen Testaments lassen uns nicht im Stich: Ihr Gott bekommt eine ganz bestimmte Aufgabe zugewiesen; von dieser her lassen sich die Kunstfigur »Jesus Gottessohn« und die künftige Glaubensgemeinde (Christentum, Kirchen) interpretieren.
Der evangelische Theologe G. Bornkamm weist darauf hin, daß
die vergleichsweise ausführlich und detailliert geschilderte Passion nicht auf ein besonders umfangreiches Quellenmaterial gestützt werden konnte.127 Angesichts der historischen Unrichtigkeiten der
Leidensgeschichte ist eher das Gegenteil wahr: Je weniger Fakten zur Verfügung stehen, desto beliebter wird die ausufernde Ausschmückung. Diese wird getragen von einer eigenen Ge-
meindetheologie: Der Jünger-Trieb verlangt danach, daß mit der Katastrophe von Golgotha nicht alles zu Ende ist, was Jünger
miterlebten, sondern daß hinter dem dunkel unfaßbaren Gesche-
hen nichts anderes als ihre Rettung steht und im vermeintlichen Unheil das Heil »Jesu« sich abzeichnet. Die Hand »unseres Gottes«
muß also gerade im Scheitern Jesu sichtbar werden, und »Jesus«
soll als der erscheinen, der Gottes Ratschlüsse verwirklicht und ihre Erfüllung bis zum bitteren Ende für uns erleidet.128 Gelingt dem historischen Jesus eine solche Tat für die Jünger nicht, versagt er vor dem Wunsch der Seinen, muß er dem »Jesus« der Jünger weichen.
Ein realer Mensch, hinfällig, ohnmächtig, gescheitert wie alle Menschen, wird bedenkenlos durch den Sohn »unseres Gottes« ersetzt.
Von diesem erhofft der Jünger Allmacht, Heil und Sieg - und
schreibt ihm sobald wie möglich Gewinnchancen zu.
Unter dem Leidensdruck eines solchen Glaubens ist Jesus aus
Galiläa das erste Opfer des Christentums. Ihm werden viele folgen.
Der Jünger-Trieb verbindet Gleichgesinnte durch die Folterjahrhunderte der Christenheit hindurch; er muß zugleich die An-
dersdenkenden, nicht Gruppenwilligen verfolgen bis aufs Blut. Der 172
von Jüngern sorgsam auf die eigenen Interessen hin komponierte Herr, »unser Jesus«, der einzige Sohn »unseres Gottes«, erfüllt alle Wünsche. Er übersteigt souverän die nackten Fakten, und die Hinrichtung des Meisters als eines Verbrechers wird auf diese Weise ebenso gemildert wie der Schock der Hinterbliebenen. Nicht zufällig strotzt das Evangelium, nachdem die Jünger wieder Worte gefunden haben, von einschlägig erfundenen Vokabeln, Spruchgruppen und Berichten, die auf »unseren Gott« Bezug nehmen. Auffällig wird dies in der Passionserzählung, wo ständig auf den Befehls-wünsch des alttestamentlichen Gottes verwiesen wird.129 Hier ha-gelt es förmlich Erfüllungslegenden: Alles, was aus Anlaß der Passion passiert sein soll, erfüllt eine Prophezeiung.130
Dem Jünger-Trieb selbst waren zunächst Kraft und Effizienz
versagt. Die Jünger mußten spätestens nach dem Desaster von Golgotha ihre Ohnmacht erkannt haben. Daher zitierte ihr Wunsch
die höchste Instanz herbei, »wickelte Gott selber in den kleinsten Jammer hinein, in dem sie drinstecken«131, und imaginierte einen Gott, der buchstäblich alles und jedes, was »Jesus« getan und gelehrt haben soll, mit seinem (unserem!) heiligen Willen legitimiert
- auch und gerade den Foltertod des Sohnes. Doch
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