Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
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Erinnerungen
Welche Stationen Otto Prokop im Krieg sonst noch erlebte, ist für mich bislang nicht zu ermitteln. Er war nach eigenen und offiziellen Angaben in einer Sanitätseinheit, aber wie lange und wie oft, ist unbekannt. Von Nazi-Aktivitäten »entlastet« wurde Prokop mit einem Entlastungszeugnis (»Clearance Certificate«) vom 13. September 1948 und der darauf angegebenen Ausweisnummer AG Nr. 331468 BAA. Auf dem Clearance Certificate ist die Abkürzung »Med« vermerkt.
Etwas kryptisch berichtete Prokop als alter Mann über die verheerenden Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945, die von US-amerikanischen und englischen Bombern geflogen wurden und ein Flammenmeer auslösten. Er kann sie nicht miterlebt haben; dennoch prägten sie ihn.
»Ich habe eine ganz besondere Einstellung zu einem Fall, der mich derartig erregt hat und auch wirklich innerlich beschäftigt hat«, sagte Prokop den Filmern der DEFA im Jahr 1995 dazu. »Leute, auch in hoher Position, sagen über den Luftangriff auf Dresden, es waren 35 000 Tote. ›Was?‹, hab ich gesagt, ›35 000 Tote? Da irren Sie aber sehr schwer! Nach der Literatur, die mir vorliegt, und auch durch das, was ich aus der Zeit weiß – auch von Flüchtlingen und so weiter –, stimmt das auf keinen Fall. Es waren nicht 35 000 Tote, sondern 135 000 Tote! Aber 35 000 Tote wurden identifiziert .‹
Nur, weil wir jetzt in der Nato sind, aus Freundschaft oder aus Sachunkenntnis, kann man die Sache nicht einfach anders darstellen. Man muss sich schon wirklich mit den Leuten befassen, die das erlebt haben, die das wissen. Und ich weiß, was ein Luftangriff war, ich habe Luftangriffe erlebt. Und da waren es nur 6 000 Tote. Das hat mir schon gereicht.«
Obwohl die Angriffe auch wegen eines Flammensturms gewaltige Zerstörungen in Dresden auslösten und obwohl bis heute diskutiert wird, ob die Bombardierung als Kriegsverbrechen zu werten ist, gab Prokop hier eine falsche Opferzahl an. Es sind höchstens 25 000 Menschen umgekommen. Woher Prokops deutlich höhere Zahl stammt, die er auch nach dem Mauerfall als richtig ansah, ist unbekannt.
Vielleicht spiegelt sich darin seine Bitterkeit gegen die alliierten Angreifer wider. Denn bis zum Herbst 1944 war Dresden – abgesehen vom niederschlesischen Breslau (Wrocław) – die letzte größere unbeschädigte Stadt im Deutschen Reich. Die Bombardierung Dresdens, die neben der Zerstörung des Verkehrsknotens auch dem letzten Deutschen unmissverständlich klarmachen sollte, dass ein Sieg unmöglich war, hinterließ eine tiefe Kerbe im Gedächtnis der Kriegsgeneration.
Sowohl die Leichenberge, die im Stadtinneren Dresdens aufgeschichtet wurden, als auch die zerstörte Frauenkirche, vor allem aber die Schilderungen über das Aussehen der Brandleichen, gruben sich in das kollektive Gedächtnis ein. Selbst meine Großmutter berichtete zitternd von diesem Ereignis, obwohl sie wie Prokop nicht persönlich dabei war. Wie er hatte aber auch sie mit Flüchtlingen aus Dresden gesprochen, die die Schrecken schilderten.
Die Bombardierung Dresdens war eigentlich ein unverkennbares Zeichen des Zusammenbruches – aber die Deutschen reagierten anders, als es sich die Alliierten vorgestellt hatten: Sie gaben immer noch nicht auf; stattdessen klagten die Deutschen nun über die Brutalität der Angreifer.
Prokop hielt seine Meinung über den Krieg abgesehen davon bis zuletzt zurück. Er hätte gerne darüber geredet, aber seine Familie und die Erfahrung, dass Kriegsteilnehmer ab den 60er Jahren in der Öffentlichkeit keine Helden mehr sein konnten und durften, bremsten ihn.
»Man soll vom Krieg nichts erzählen und darf auch nichts vom Krieg erzählen«, sagte er dazu. »Die meisten Leute geben ja nur an, was sie alles geleistet haben, der Miles Gloriosus – wie viel Krim sie gestürmt haben und wie viele Feinde sie niedergemacht haben und so weiter. Wenn man genau prüft oder die Leute kennt: alles unwahr oder vieles unwahr …«
Mehr als diese merkwürdig schwammige Aussage war aus ihm nicht herauszubringen.
»Die Menschen«, so sagte Prokop, »lernen nichts aus der Geschichte. Das, was heute richtig ist, kann morgen schon falsch sein. Darum ist es besser, sich nicht zu äußern, nie in eine Partei zu gehen und alles mit Vorsicht aufzunehmen, was die Leute sagen.
Ich weiß nicht, was Ihre Meinung ist, aber ich denke, das ist vielleicht eine sehr bescheidene Lebensweisheit.«
Steil bergauf
Nach dem Krieg setzte Prokop sein Studium in
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