Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
berichtete Planetta, »dass ich auf diese Person überhaupt bei dieser Gelegenheit einen zweiten Schuss abgegeben habe, kann aber auch nicht sagen, dass es vollkommen ausgeschlossen ist. Ich war derart aufgeregt in dieser ganzen Situation, dass ich eben nicht mehr genau weiß, was ich in dem Augenblick tat und ob ich ein zweites Mal geschossen habe.«
Das zweite Projektil wurde nie gefunden. Nach Angabe des Rechtsmediziners Professor Anton Werkgartner steckte es vielleicht in der Wirbelsäule des Toten und war daher bei der Sektion – bei der die Wirbelsäule nicht geöffnet wurde – nicht aufgefallen. Dass das Projektil wirklich dort steckte, war möglich: Dollfuß hatte erkennbare Schussverletzungen im Hals- und Brustbereich, an denen er auch verstorben war. Die Leiche wurde weder gründlich seziert noch geröntgt. Nur deshalb blieb der Verbleib des zweiten Projektils also technisch gesehen »ungeklärt« und erlaubte Verschwörungstheorien.
Was Prokop zudem verwirrte, war vielleicht, dass Werkgartner Nationalsozialist war: Schon 1936 war er Mitglied der – damals in Österreich noch illegalen – NSDAP und der SA (paramilitärische »Sturmabteilung« der Nazis). Er spendete der NSDAP zudem verbotenerweise Geld. Werkgartner hatte also kein Interesse an der Verschleierung des Putschversuches durch eine Verschwörungstheorie. Zwar wäre es den Nazis lieber gewesen, den Putsch ohne eine Erschießung über die Bühne zu bringen, aber als es dann soweit war, hatte Werkgartner nur wenig dagegen und noch weniger zu vertuschen.
Prokop traute dem Wiener Rechtsmediziner – der wie Prokop später auch Spezialist für die Vererbung von Blutgruppen war – vielleicht einerseits kein falsches Gutachten zu, verstand aber zugleich nicht, dass die auch von Prokop bewunderten Nazis den österreichischen Bundeskanzler einfach umgebracht haben sollten.
Dieses gedankliche Schwimmen, aber auch das in den folgenden Jahren schwankende Kriegsglück und die seit seiner Kindheit erlebte Unvorhersehbarkeit des nächsten Moments haben Prokop lebenslang begleitet. Er blieb im Kern immer vorsichtig und zurückhaltend .
Dazu trug auch bei, dass sich Prokops Großeltern am 19. Mai 1945, also gleich nach Ende des Krieges, umgebracht hatten: Angeblich aus Furcht vor russischer Besatzung und Misshandlung nahmen sie Blausäure und starben. Eine Kopie des Abschiedsbriefes seiner Großeltern lag bis zuletzt in der Schreibtischschublade von Prokops Büro in der Hannoverschen Straße.
Die Großeltern waren, so Prokop, »bloß deutsch gesinnt, nicht etwa Nazis«. Dennoch hielten sie den drohenden Systemwechsel nach dem Krieg nicht aus. In ihrem letzten Brief an die Angehörigen schrieben sie:
»So müssen wir Alten gemeinsam die letzte Reise in ein unbekanntes Land antreten. Es ist ja nicht nur der fremde Feind im Lande, sondern auch der Einheimische.«
»Lebt wohl, liebe Kinder, Schwiegersöhne und Enkeln. Busserl, Mama« – der Stoff, aus dem Alpträume sind. Prokops Großeltern brachten sich zum Kriegsende um. Den Abschiedsbrief hatte Prokop für seine Autobiografie vorgesehen.
Die Scheidung seiner Eltern, die angebliche Doppelbödigkeit bei der Ermordung des österreichischen Kanzlers, die für Prokop nicht sortierbaren Widersprüche zwischen Ideologie und Einzelschicksalen bei den Judenpogromen (siehe S. 31 f.) und die Behandlung des gefangenen Kämpfers mit Schlägen und Gulasch – all das machte aus Prokop einen Grenzgänger und Grenzüberschreiter. Und zwar im wörtlichen Sinne. Er überschritt nicht nur die Grenze zwischen Ost und West. Das Wandern entlang und über alle möglichen Trennlinien hinweg zog sich von Anfang an durch sein Leben. »Mit Alpenvereinsausweisen sind wir schon vor 1938 nach Reichenhall über die Alpen geklettert«, berichtete Prokop beispielsweise über eine ganz handfeste Grenzüberschreitung. »Da stand die Hitlerjugend, und jeder von uns tapferen Österreichern bekam fünf Mark.«
Prokop war zunächst Mitglied der in Österreich illegalen Hitlerjugend geworden. Später erlebte er, wie der »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich gefeiert wurde . »Die Kinder haben sich vor Freude heiser geschrien«, berichtete er über die Tage des Einmarsches der Deutschen. »Es gab eine Umfrage in Salzburg: Soll das Land Salzburg an Deutschland angeschlossen werden? Ich kann die Zahl nicht genau sagen, aber 98 Prozent waren für den Anschluss. Das ganze Land Salzburg war sehr deutsch gesinnt, und wir haben
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