Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
seinen Anrufbeantworter laufen. Einige verloren zeitgleich ihren Job, nachdem ihre Arbeit im MfS (Ministerium für Staatssicherheit) bekannt geworden war. Ich verstand die Welt nicht mehr. Dieses Ausmaß an Verweigerung lag jenseits von Verschwörungen, 68ertum und Seilschaften.
Mir riss der Geduldsfaden. Das Budget des Verlages war schon nach wenigen Monaten verbraucht. Trotzdem hatte ich außer meiner persönlichen Erfahrung mit Prokop sowie Gesprächsabsagen kaum etwas Greifbares in der Hand. Weil die deutschsprachigen Rechtsmediziner schon jahrzehntelang schwere Probleme gehabt hatten, ihre nationalsozialistische Geschichte öffentlich aufzuarbeiten, fürchtete ich, dass vielleicht doch etwas Politisches den Kollegen Angst machte.
Doch was sollte das sein, Jahre und Jahrzehnte nach der Vereinigung Deutschlands, in einer Zeit von Frieden und Wohlstand? Auch hier verstand ich die Antwort erst langsam: Besonders die Kollegen im Osten fürchteten um eine nachträgliche Kürzung ihrer Renten, wenn ihre – allerdings beruflich oft unvermeidlichen – Stasi-Kontakte zutage träten . Nicht nur der Systemwechsel 1945, sondern auch die politische Wende im Jahr 1989 verunsicherten die älteren Befragten. »Man darf in keiner Partei sein«, pflegte Otto Prokop zu sagen. Allerdings war er einer der wenigen, die das auch durchzogen.
Ich schmiss also meine Geldreserven zusammen und teilte dem Verlag mit, dass ich die Sache künftig persönlich nehmen und finanzieren würde. Ich fühlte den alten Professor und auch mein Anliegen verraten. Ab sofort suchte ich dort, wo ich es als angehender Kriminalbiologe in der Kölner Rechtsmedizin von meinem Chef gelernt hatte: am Rand des Randes.
Kaum hatte ich den Trotzkopf aufgesetzt, öffneten sich die Türen. An eine davon hatte ich schon vor Ewigkeiten geklopft: Otto Prokops bester Freund aus dem Westen war zwanzig Jahre zuvor mein Nachbar in einem total abgewirtschafteten Gebäude der Universität Köln gewesen. Anders als die Stasi-Akten-Behörde, die nur einen zensierten Aktensatz über Prokop herausrückte, erstrahlte durch jenen das Licht einer ganz anders gespeisten Quelle – der von Freundschaft, Abenteuerlust, Güte und menschlicher Zuneigung. Ich erkannte das Bild zweier Forscher, die Teile der Welt aus den Angeln gehoben hatten. Doch da stand auch eine Mauer und spaltete die Herzen und Hirne der Menschen.
Von dieser Mauer und von Menschen, die mit ihr in Prokops Umfeld zu tun hatten, handelt das Buch. Es ist eine märchenhafte Geschichte mit tragischen Zügen. Ich habe darum reichlich Zitate und Interviews eingefügt, viele Abbildungen und Originalberichte eingestreut. Das Ganze ist bewusst ein Splitterwerk – aber hoffentlich ein holografisches.
Dies ist ein Buch in einfacher und klarer Sprache – kein historisches Werk, kein medizinisches Kompendium und auch kein wissenschaftlich-biografisches Werk. Es soll die Geschichte einer Zeit und eines Professors erzählen, die, während dieses Buch erscheint, aktiv dem Vergessen anheimfällt.
Mein Ausflug in diese versinkende Welt hat Spuren hinterlassen. Erstens habe ich dabei gelernt, wie leicht man sich im Leben verirren kann. Und zweitens, wie gefällig das Schicksal Menschen in den Körper kriecht, die glauben, dem Lauf der Welt, dem Wechsel politischer Systeme und manchmal sogar dem Tod mit einem bübischen Schmunzeln, Neugier und einem Fotoapparat entgegentreten zu können.
»Ich weiß ja nicht, was Ihre Meinung ist«, sagte Professor Prokop oft.
Was meinen Sie?
1. Biografische Stationen
Hitlerjungs und Tierhaare
Otto Prokop wurde am 29. September 1921 im österreichischen St. Pölten geboren und starb am 20. Januar 2009 in einem Pflegeheim in der Nähe von Kiel.
Nach dem Abitur, der österreichischen Matura, begann Prokop im Jahr 1940 ein Medizinstudium in Wien. Kriegsbedingt unterbrochen setzte er es erst Ende 1945 in Bonn fort. Dort schloss Prokop sein Studium 1948 sowohl mit dem Staatsexamen als auch einer Doktorarbeit über »Mord mit Tierhaaren« ab. Diese schöne Untersuchung trug er im August 1951 in Berlin auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche und soziale Medizin – heute Gesellschaft für Rechtsmedizin – vor.
Im folgenden Jahr wurden seine Untersuchungen zu tödlichen Tierhaaren als dreiseitiger Fachartikel in der Deutschen Zeitschrift für gerichtliche Medizin veröffentlicht. Das Thema war exotisch, aber von fachlichem Interesse. Angeregt wurde Prokop dabei von einer
Weitere Kostenlose Bücher