Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
wenn mir ein Kräuterweiblein ein unfehlbares Mittel gegen den Krebs anbieten würde«, schrieb Forßmann. »Meine Antwort war stets, dass ich es vorsichtig überprüfen lassen würde und zutiefst dankbar wäre, wenn es wirklich sein Versprechen hielte. Ich dachte dabei stets an William Witherin (1741–1799), der einer alten Frau die Digitalis-Therapie [mit der Pflanze Fingerhut] absah, sie aber nicht ungeprüft übernahm. Erst nach fast zwanzig Jahren sorgfältiger Beobachtung entschloss er sich endlich 1785, seine Erfahrungen mit der entwässernden Wirkung des Fingerhutes zu veröffentlichen.«
Diese offene und prüfende Haltung ist sehr modern und heute Teil der »evidenzbasierten Medizin«, die unsere medizinische Welt zu Recht beherrscht. Keineswegs teilt sich die Welt in »Schulmediziner« und »Alternativmediziner«, wie es oft von Esoterikern behauptet wird. Auch Mediziner prüfen viele Alternativen, darunter auch ständig neue, verbesserte Therapieformen.
Wie Seele, Einbildung und Heilkunst zusammenwirken, legte Forßmann ebenfalls dar. »Erinnern wir uns doch«, sagte er, »ein Kind hat sich gestoßen oder ernsthaft seinen Finger gequetscht. Schluchzend läuft es zu seiner Mutter, die es tröstet und über diese schmerzende Stelle hinwegbläst. Und ein Wun der geschieht! Das kleine Wesen beruhigt sich und hat fast augenblicklich keine Schmerzen mehr. Hat nun diese Handlung der Mutter zu einer Ausschüttung von Endorphinen geführt und damit das Warnsignal Schmerz unterbrochen?
Und noch eines! Sollte es nicht möglich, ja wahrscheinlich sein, dass Krankheiten mit einer erheblichen psychischen Komponente in verschiedenen völkischen, rassischen Bereichen mit ihrem sehr unterschiedlichen geistigen, weltanschaulichen oder religiösen Untergrund sich sehr verschieden darbieten und ebenso verschieden beeinflussbar sind? Könnte das für die Akupunktur nicht auch bedeuten, dass sie dort, wo sie seit mehreren Jahrtausenden ausgeübt wird und dadurch fest in das allgemeine Bewusstsein einprogrammiert ist, noch heute etwas leistet, bei uns aber versagt, versagen muss? Vor allem der Kritik nicht standhalten kann, zu der uns unsere Medizin verpflichtet?
Dazu einige eigene Erfahrungen, die vielleicht zu diesen psychischen und somatischen Bildern passen:
1. Im Frühjahr 1942 kamen auf meinem Hauptverbandplatz ca. 20 km (!) zu Fuß zwei russische Verwundete. Bei beiden war durch einen Granatsplitter die Bauchhöhle eröffnet und der ganze Dünndarm herausgetreten. Sie trugen diesen aus der offenen Hose hervorquellenden Bauchinhalt in einem schmutzigen Handtuch vor sich her. Ich hielt beide für verloren und war ratlos.
Schließlich entschloss ich mich zu dem kleinstmöglichen Eingriff und reinigte zunächst die Därme von ihren gröbsten Verunreinigungen durch Erde, Tannennadeln und welke Blätter. Danach erweiterte ich in einer ganz oberflächlichen Narkose den oberen und unteren Wundwinkel, bis sich das Darmpaket reponieren ließ. Nach einer ausgiebigen Spülung mit Rivanollösung wurde die Bauchhöhle dann primär mit einigen großen durchgreifenden Nähten verschlossen.
Wie durch ein Wunder entleerten beide schon nach zwei Tagen ihren Stuhlgang und aßen mit Appetit, so dass ich sie nach einer Woche in gutem Zustand nach rückwärts abtransportieren lassen konnte. Das hätte keiner unserer deutschen Verwundeten überstanden; bei ihnen waren die Eingriffe wegen perforierender Bauchverletzungen von einem erschreckend schlechten Ergebnis.
2. Es wird wohl jetzt kaum noch Ärzte geben, die sich an die ›Schüttler‹ erinnern können, die, ein jammervoller Anblick, kurze Jahre nach dem Ersten Weltkrieg in den Straßen unserer Großstädte bettelten. Meist waren es Männer, die verschüttet gewesen waren. [Dies ist heute als besondere Form der posttraumatischen Belastungsstörung beschrieben; Forßmann erkannte, dass es sich um eine rein psychische Belastung handelte.]
3. In seinen sehr eindrucksvollen Vorlesungen über den Basedow schilderte Sauerbruch regelmäßig den von ihm beobachteten ›Schreckbasedow‹. Es handelte sich um Soldaten, die etwa nach einer in allernächster Nähe erfolgten Granatexplosion innerhalb weniger Minuten mit einer voll ausgebildeten Merseburger Trias [Symptome einer Schilddrüsenerkrankung] erkrankten. Sie starben, wenn man sie nicht sofort operierte. Aberglauben gehört zur menschlichen Tiefenpersönlichkeit und ist in seinem Umfang und seiner Wirkung unüberblickbar. Er äußert
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