Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
Westdeutschland bekommen.« Doch wie schon oft zuvor: In politischen Dingen wusste Prokop nicht, welchen Schluss diese Tatsache zuließ.
Vor allem verstand Prokop nicht, warum über die politischen Veränderungen nach 1989 seine wissenschaftlichen Leistungen in Vergessenheit gerieten. Vielleicht wäre es für ihn gesünder gewesen, aufrichtige und kämpferische Diskussionen mit klaren Kernaussagen zu führen. Doch streiten wollte sich Prokop eben nur in seinem Fach, der Rechtsmedizin. Aus jeder Realpolitik, das hatte er von Kindsbeinen an gelernt, hielt er sich ängstlich heraus.
Prokop dokumentierte gerne. Aber er interpretierte nur, wenn es eine Versuchsserie dazu gab. Das wurde ihm zum – von ihm so empfundenen – Verhängnis. Denn welche Versuchsserie sollte er dazu durchführen, dass sein Leben immer wieder eingekerbt wurde, ohne dass er erkennen konnte oder wollte, was sein Anteil und seine Mitwirkung daran waren? Er sah sich als unpolitischen Menschen, der in einer politischen Umgebung aufklärerisch – als Ausbilder und Forscher – wirkte.
Noch nicht einmal in einem Artikel über den Sinn der Todesstrafe wollte sich Prokop trotz vieler kluger Gedankenschleifen festlegen. »Quidquid agis prudenter agas et respice finem«, sagte er dann nur, »was auch immer du tust, tu es klug und bedenke die Folgen«.
Doch das Zitat hat einen doppelten Boden. Es gibt verschiedene Versionen dieser Redewendung. Sie führen auf das zwar nicht in der Bibel verwendete, aber im Buch Jesus Sirach niedergeschriebene »Bei allem, was du tust, denk an das Ende, so wirst du niemals sündigen« zurück.
War das eines seiner Motive oder sogar der alles durchdringende Äther Prokops: nicht zu sündigen? Wollte er sich deshalb so auffällig ungern festnageln lassen? Ließ er seine klaren und scharfen Einsichten deswegen lieber in Forschung und Freundschaften fließen, wo die Verhältnisse eindeutiger und die Sünden leichter vermeidbar waren als in der Politik und im Gesellschaftlichen? Tänzelte er mit, meistens aber doch nur um die Machthaber herum, um seine Interessen – Spezialistentum, Wahrheitsfindung, auch Eitelkeit – durchzusetzen?
Ich glaube nicht, dass Prokop ein »Angsthase« war, wie es mehrere Interviewpartner äußerten. Er scheint mir vor allem ein von klein auf an verletzter, aus Erfahrung vorsichtiger und brillanter Mensch gewesen zu sein, der sich immer wieder mit kindlichem Schwung aufs Eis begab. Dass er dort aber nur dann immer schönere Pirouetten drehen konnte, wenn er sich zwischendurch auch mal beim Üben eine blutige Nase holte, wollte er nicht wissen. Also schlug er sich die Nase solange nicht an, bis es ihn nach dem Mauerfall mit voller Kraft aufs Eis schmiss – und er da liegen blieb.
Das Staunen hat Otto Prokop nie verlernt. Diese Eigenschaft durchstrahlte ihn so offensichtlich, dass sie mehr als alles andere die Menschen, die ihn kannten, mitriss. Und vielleicht ist das jenseits aller Ehrungen, Orden und politischen Verstrickungen, die sich Prokop sehenden Auges einhandelte, auch sein Vermächtnis: Dass Staunen zwar Berge, aber leider keine Mauern versetzt.
5. Interviews
»Es war nicht Wahrheit, es war Sport.«
Interview mit Gabriele Goettle in Berlin
Gabriele Goettle ist Schriftstellerin. Früher hat sie eine anarcho-feministische Zeitung herausgegeben, seit den 80er Jahren schreibt sie für die taz ihre monatliche Reportage. Die meisten ihrer Bücher erschienen in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Reihe »Die Andere Bibliothek«, darunter der Reportagen-Band »Experten«, in dem auch ihr Porträt von Otto Prokop enthalten ist.
Gabriele Goettle und die Zeichnerin und Fotografin Elisabeth Kmölninger haben sich auch nach dem »Experten«-Interview immer wieder mit Otto Prokop unterhalten – meist während spontaner Besuche bei ihm im Institut für Rechtsmedizin der Charité.
Goettle lebte in den 60er Jahren in Westberlin in der Kommune 1 – »allerdings nur in der Anfangsphase, bevor Uschi Obermaier den politischen Ansprüchen ein Ende machte«. Beim Kommune-I-Experiment handelte es sich um einen der bis heute bekanntesten Knotenpunkte der 68er, die mit der oft nationalsozialistisch durchdrungenen Elterngeneration brachen.
Das folgende Gespräch verbindet viele lose Enden, die im Laufe der Recherchen auftraten, und bietet einen erweiterten Blick auf die Lebensentscheidungen von Otto Prokop.
Goettle: Wir haben ihn kennengelernt, da war er achtzig. Er hat sich total
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