Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
aber persönlich als ganz grausames Schicksal beschrieben, dass er hungrig wie ein Wolf durch Trümmerstädte kam und in irgendwelchen Bunkern untergekommen ist …
Das Lager war in Remagen, und er ging dann nach Bonn.
Genau. Er hat sich durchgeschlagen. Als alles wieder ein bisschen in Ordnung kam und die Universitäten wieder ihren Betrieb aufgenommen haben, hat er sein Studium wieder aufgenommen. Er hatte, glaube ich, nur ein Semester studiert. Und dann hat er studiert und es auch durchgezogen bis zur Promotion und Habilitation und war dabei ganz zielstrebig, da hat er sich nicht mehr irritieren lassen.
Später ist er noch einmal nach Frankreich gefahren, wo er in diesem Lager war, um sich das anzuschauen. Er hat es aber nicht mehr vorgefunden. Das war die Enttäuschung von Leuten, die glauben, sie könnten in die Geschichte zurückreisen und würden das – wie in ihrer Erinnerung und Fantasie und Vorstellungwelt – mit den tiefen Emotionen verbunden wiederfinden. Er hat aber nichts davon gefunden, auch die Emotionen nicht, und dann ist er sehr enttäuscht wieder abgereist.
Dann kam dieser Moment, wo er fertig war und diese Stelle dann frei wurde, als quasi alle abgehauen waren in die Gegenrichtung. Er hatte in Berlin die Stelle – auch noch zwei andere, in Leipzig und beim Blutspendedienst –, er hat die ganzen fehlenden Kräfte erst mal abgedeckt und ist mit einem Porsche hin und her gefahren, selbst, ohne Fahrer.
Er hat immer zwei Pässe gehabt, einen österreichischen Pass und einen DDR-Pass.
War das erlaubt?
Nein. Er hat ihn einfach behalten, nicht abgegeben, er ist damit gereist, und man hat ihn gelassen. Man hat ihn natürlich observiert, aber man hat ihn gelassen. Pässe laufen ja ab – er ist vorm Ablaufen immer ausgereist und hat seinen österreichischen Pass zu Hause wieder verlängert. Er ist ein-, zweimal im Jahr nach Österreich gefahren zu seinen Brüdern, beides Ärzte. Der eine war ein sehr bekannter Sportmediziner.
Ja, sie haben auch alle sehr viel publiziert, teilweise zusammen.
Das ist eine alteingesessene Arztfamilie da, in St. Pölten. Der Vater war auch schon Arzt. So hat Prokop das Leben desjenigen geführt, der jederzeit die Mauer überspringen, durchdringen konnte, raus und rein kam und dem man nix kann. Er hat auch lang und breit von seiner Darmkrankheit geredet, und dann hat er wieder angefangen von der Wehrmacht und von der Waffe.
Waffe?
Ja, die Pistole auf seinem Tisch. Ich hab gesagt, was ist denn damit? Ja, das ist seine Waffe, und er möchte darüber nicht reden, was er mit der Waffe schon alles … Da hab ich gesagt, nein, möchte ich auch gar nicht wissen, aber wieso ist sie da? Dann habe ich mir erlaubt, die in die Hand zu nehmen. Ich kenn mich ja so ein bisschen aus und habe gesagt: Ach, die ist ja zu. Dann sagte er: Ja, ja, die durfte ich nur behalten, weil ich den Russen gesagt habe, ich brauche die für die Vorlesung, ich muss den aufgesetzten Schuss demonstrieren können. Dann haben die Russen gesagt, gut, aber es wird alles zugelötet, der Schacht und alles, also unten, wo du die Kugeln einführst. Sie ist unbrauchbar, sieht aber bombastisch aus.
Naja, also die Waffe ist wichtig, und dann hat er sie in die Hand genommen, ich hab wirklich den Eindruck gehabt, diese Soldatenzeit bedeutet für ihn Potenz, Herrschaft, Macht, Männlichkeit, Kameradschaft, Männerbund. Also wenn du, bevor du irgendwie geliebt hast, auch im sexuellen Sinne, wenn du dann schon tödlich eindringst ins Fleisch von andern, dann ist’s aus, und das musste er kompensieren mit diesem Herrenmenschentum, das er auch irgendwie gern hatte, wie die Russen. Er hat immer einen Unterschied gemacht zwischen den Russen, die nach 1945 in der DDR das Sagen hatten, nachdem die Amis weg waren, und den Russen, die bekämpft worden sind, also der Bolschewismus – als wäre der angebrandet bei uns, als hätte man den zurückdrängen müssen.
Diese ganzen vollkommen falschen ideologischen Strukturen, die eingepeitscht worden sind in die Leute, hatte er alle noch im Kopf als erwachsener Gerichtsmediziner, als alter Mann. Die Bolschewiken waren die Ungläubigen, die die Welt bedroht haben.
Hat er dir von den Großeltern erzählt, die sich umgebracht haben, als die Russen gekommen sind?
Ja, das ist ganz wichtig. Er hat sogar den Abschiedsbrief vorgelesen. Sie haben sich umgebracht, als die Russen kamen, weil die Russen sowohl das Feindbild als auch das Angstbild waren. Dass sie am Ende auch noch
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