SGK264 - Im Wartesaal der Leichen
Insel gehen. Ich möchte dich
darum bitten, mich zu begleiten .«
Chang Li zögerte keine Sekunde mit der Antwort. »Das ist
selbstverständlich. Ich an deiner Stelle würde genauso handeln .«
»Und Mi - wenn es Ihnen nichts ausmacht - ich würde gern mit von
der Partie sein«, warf Su Hang ein.
Die Angesprochene lächelte. »Mit so vielen Helfern habe ich gar
nicht gerechnet .«
Sie kamen überein, umgehend loszufahren.
Chang besaß ein kleines Motorboot, mit dem sie den Weg zur Insel
überwinden wollten.
Als sie aus dem übervölkerten Hafenbecken heraus waren, lag dunkel
die endlose Weite des Meeres vor ihnen.
Der Himmel war bewölkt, nur vereinzelt glitzerte ein Stern am
Firmament, wenn die Wolkendecke aufriß.
Mi Tsu hatte zu Hause gesagt, wohin sie sich begeben wollte, um
den Unwillen ihrer Familie nicht auf sich zu ziehen.
Die drei jungen Menschen sprachen während der ganzen Fahrt kaum
ein Wort.
Dumpf brütend saß Mi Tsu neben Su Hang, während Chang Li stumm und
aufmerksam sein Boot in die Nacht steuerte. C-GIRL-G hing ihren Gedanken nach
und hoffte, daß sie - wie immer ihre Mission auch ausfallen würde - mit der
Gewißheit fertig würde.
Für Su war diese Fahrt ebenfalls ein wichtiger Schritt nach vorn.
Nach all den Ereignissen in der jüngsten Vergangenheit stand ein Besuch im
Totenhotel an. Zu einem Zeitpunkt dort einzutreffen und um Einlaß zu begehren,
wo aller Wahrscheinlichkeit nach keine weiteren Besucher sich aufhielten, würde
für den Bewacher der Stätte, einen älteren Herrn Namens Yee Keong, sicher
überraschend sein. Aber er würde nichts dagegen einzuwenden haben, wenn Mi Tsu
ihn wissen ließ, daß sie gekommen war, um wegen eines Platzes in der
Leichenherberge für ihren Vater zu fragen. Sein Sarg sollte direkt neben dem
Lees stehen.
Keong, ein freundlicher, älterer Mann mit grauem dünnem Haar, war
der einzig Lebende, der eine Wohnung in der Totenherberge hatte.
Als die drei Passagiere des Bootes an die Insel herankamen, sahen
sie in der Dunkelheit ein schwaches Licht glimmen, das stärker wurde, als sie
anlegten.
Der Schein kam aus einem winzigen, vergitterten Fenster des
rot-weißen Gebäudes, das aussah wie eine alte vergessene Fabrikhalle.
Wie die meisten Chinesen aus Hongkong, so hatte auch Su Hang hier
verstorbene Verwandte, die vor ihrem Tod bestimmt hatten, in diesen Wartesaal
gelegt zu werden, bis die Erlaubnis erwirkt war, daß man ihre sterbliche Hülle
zur letzten Ruhe in Heimaterde brachte.
Su Hang wußte, daß für die meisten in diesem Haus ein solcher Tag
wahrscheinlich nicht kommen würde.
Für viele wurde diese vorläufige Ruhestätte wahrscheinlich ein
Platz für immer. In China, wohin sie wollten, waren in der Zwischenzeit viele
Friedhöfe in Äcker verwandelt worden. Die Behörden dort machten Propaganda für
die Einäscherung, weil sie damit Platz sparten und dies die beste
Bestattungsmethode sei.
Erstaunlich war die Tatsache, daß die Toten zu einem großen Teil
auch Chinesen aus den Vereinigten Staaten und südostasiatischen Ländern waren.
In China war der Totenkult noch heute lebendig. Gerade deshalb wollten die
meisten nichts davon wissen, daß ihre Leiche verbrannt und zur Feuerbestattung
in die Volksrepublik gebracht wurde.
Tuckernd erstarb das Motorengeräusch.
Dem Bewohner des Totenhotels war die Annäherung des Motorbootes
nicht entgangen.
Als Mi Tsu, Chang Li und Su Hang auf dem schmalen Pfad dem
Hauseingang sich näherten, wurde die Tür wie von Geisterhand geöffnet.
Ein schmaler Lichtstreifen fiel nach außen.
Silhouettenhaft war die Gestalt des schmalen, kleinen Mannes zu sehen, der sie auf der Schwelle seines Hauses
erwartete.
»Das Hotel ist geschlossen«, ließ er sie wissen, noch ehe sich
einer von ihnen geäußert hatte. »Ich muß Sie leider bitten, zurückzukehren und
morgen noch mal zu kommen .«
Bevor Mi Tsu sich nach vorn schieben und etwas sagen konnte,
packte Su Hang sie beim Arm und sagte: »Lassen Sie mich das machen. Bevor wir
uns auf lange Verhandlungen einlassen, kenne ich da einen Weg, der uns die
Türen zu den Leichensälen öffnet .«
Mi Tsu war erstaunt, als Su Hang Yee Keong ansprach und ihm eine
Lizenz unter die Nase hielt.
»Ich bin im Auftrag der Polizeibehörde hier«, sagte Su mit ruhiger
Stimme. Mi Tsu glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. Sie fragte sich,
wie Su auf eine solche ausgefallene und gefährliche Behauptung kommen konnte.
Ein fragender Blick traf auch Chang Li. Der blinzelte
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