Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
Festung zu, trug die schlichte Kleidung eines Landmanns und einen breiten Strohhut. Mr Silverwest zügelte sein Reittier und wartete auf Shrew und den anderen Reiter. Es folgte ein Gespräch, und die Männer nickten. Nachdem Silverwest seine Manteltaschen abgeklopft hatte, förderte er ihren Schuh zutage. Dann tippte er sich an den Hut und ritt mit dem Fremden auf die Brücke zu.
Momente später reichte der Rabenkrieger Selene mit finsterer Miene den Schuh.
»Was ist los, Shrew?«, fragte Selene.
»Es geht um dieses Mädchen, Hannah. Die Kesselflickerin. Sie haben ihren Wagen flussabwärts gefunden, überschlagen im Wasser.«
Selene ließ ihren Schuh in den Schoß sinken. »Was ist mit Hannah?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Spur von ihr oder ihrem Pferd.«
Das misstönende Stöhnen, das aus tausenden Kehlen kam, wurde lauter, bis es sich in einen gemeinsamen, dünnen Schrei verwandelte. Selene schauderte. Die winzigen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.
»Ich glaube nicht, dass ich in meinem ganzen Leben jemals solchen Wind gehört habe«, murmelte sie leise. »Es ist beinahe beunruhigend.«
Auf dem Sofa liegend, ihren geschwollenen, bandagierten Knöchel auf ein großes eckiges Kissen gebettet, schaute sie aus der steinernen Fensterhöhle. Unablässig erhellten Blitze den aufgewühlten purpurnen Himmel und die fernen Felshänge. Sie erschauerte abermals.
Mit Unbehagen dachte sie an das Mädchen, Hannah, allein dort draußen, lebendig oder tot.
»Ihnen ist kalt.«
»Das ist es wohl.«
Rourke erhob sich von seinem Platz neben dem Feuer, ein bärenstarker Hüne in ledernen Kniestiefeln, Hosen und weißem Leinenhemd. Mit einer eleganten Bewegung nahm er die gefaltete Decke von der hohen Rückenlehne seines Stuhls. Hinter ihm loderte das Feuer auf. Bis auf sein kantiges Kinn lag sein Gesicht im Schatten.
Sie hieß die schwere Wolle um ihre frierenden Schultern willkommen – und die angenehme Welle des würzigen, männlichen Dufts, die seine Bewegung begleitete. In ihrem Pantoffel krampften sich die Zehen ihres unverstauchten Fußes voll mädchenhafter Wonne zusammen – eine Reaktion, die sie seit Ewigkeiten nicht erlebt hatte. Das Einzige, was noch besser sein würde als eine Decke, wäre, wenn er sich neben sie setzte. Sie wusste von ihrer Umarmung von vor einer Woche bereits, dass sein biegsamer Kriegerkörper überall hart und köstlich warm sein würde. Die perfekte Kur, wenn man bis auf die Knochen durchgefroren und verunsichert war.
Er trat so schnell zurück, wie er gekommen war. Der Blick seiner grünen Augen huschte über sie hinweg und erinnerte an die eines riesigen Wolfs, den sie einmal beobachtet hatte, während er um ein Lager in der Steppe herumgeschlichen war. Augen, die sowohl Interesse als auch ungezähmtes Misstrauen vermittelt hatten. Als sie Shrew und Tres das letzte Mal gesehen hatte, hatten sie Karten gespielt und sich in der Küche Lügengeschichten erzählt.
»Noch etwas Whiskey?« Rourke hob die staubige Flasche vom Tisch.
Alles, damit er wieder näher herankam. »Ja, bitte.«
Einen Moment später und beklagenswerterweise immer noch allein auf dem Sofa, ließ sie die bernsteinfarbene Flüssigkeit in ihrem Glas aus geschliffenem Kristall kreisen. Der Wind stöhnte, und die Fenster klapperten. Sie trank den Whiskey mit einem einzigen Schluck aus. Der Alkohol brannte ihr in der Kehle, sie hustete leise.
»Ich nehme an, das wird die ganze Nacht so gehen?«
Sie meinte den Wind, aber auch die angespannte, unbehagliche Atmosphäre zwischen zwei Menschen, die sich Tage zuvor leidenschaftlich geküsst hatten und das Thema jetzt vollkommen mieden.
Ein vorsichtiges Grinsen umspielte Rourkes Lippen. »Die Dorfbewohner haben früher Geschichten von jenen erzählt, die das Geräusch in den Wahnsinn getrieben hat.«
Im Licht des Feuers wirkte er ganz wie ein normaler, sterblicher Mann. Ein sehr gut aussehender sterblicher Mann, aber nichtsdestoweniger ein Mann. So anders als der schwarz geflügelte Krieger mit Schwefelaugen, der sie in jener Nacht vor zwei Wochen in Whitechapel mühelos eingefangen hatte.
Selene umfasste ihr leeres Glas mit beiden Händen. »Worauf hat der Pfarrer heute Nachmittag angespielt, als er die unglückliche Familiengeschichte der Avenages erwähnte?«
Das Lächeln um seine Lippen erstarb. »Wir alle haben Tragödien in unserer Vergangenheit, nicht wahr?«
Sie schob sich tiefer in die Kissen hinein. »Natürlich. Aber es ist nicht fair, dass meine
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