Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
seinen Sattel und sagte: »Ich nehme an, ich verdiene Ihre Verachtung.«
»Nein, nicht Verachtung.« Sie lächelte. »Man nennt es Revanche, aber nur zum Spaß.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Revanche zum Spaß. Davon verstehe ich etwas.« Er tippte sich an den Hut. »Dann sage ich Ihnen Adieu. Fürs Erste.«
Als sie die Stufen wieder hinaufging, verklang das Geräusch von Hufen auf Stein.
Rourke stand mit vor der Brust verschränkten Armen da. »Sie wissen, dass Sie gerade den Mann abgelehnt haben, der …«
»Ich weiß, wer er ist. Wer sie sind. Sie sind die beiden jungen Prinzen, die im fünfzehnten Jahrhundert aus dem Tower von London verschwunden sind. Tres hat gewiss das Temperament für die Königswürde. Die einzige Frage ist, warum er Tres genannt wird. Er sollte Edward V. sein, nicht der III.«
Nach einem langen Zögern murmelte Rourke: »Bei dem Plan, Edward und seinen jüngeren Bruder, Richard von Shrewsbury, zu ermorden, gab es drei Verschwörer.«
Selenes Augen weiteten sich. »Und er hat sich an ihnen gerächt! Sein Name ist eine Trophäe, die an ihren Tod erinnert.« Sie nickte. »Das gefällt mir. Aber die Prinzen wurden nicht ermordet. Sie sind sehr lebendig, ganz zu schweigen von ihrer Unsterblichkeit.«
Rourkes grüne Augen verdunkelten sich.
Als sie begriff, berührte sie die Manschette seines Hemds. Die Decke glitt von ihrer Schulter. »Sie
wurden
ermordet, aber Sie haben sie nicht sterben lassen. Sie haben bei ihrem vorletzten Atemzug eingegriffen.«
Es war Unsterblichen verboten, sich in den Tod von Sterblichen einzumischen, aber manchmal geschah es trotzdem. Jeder, der es wagte, die Regel zu brechen, sah einer ernsten Bestrafung entgegen, obwohl es vorgekommen war, dass der Rat der Ahnen verzieh.
Rourke bestätigte ihre Theorie nicht, noch leugnete er sie.
Sein Blick wanderte über ihre Lippen und ruhte dann ziemlich anklagend auf ihrer nackten Schulter. Sie zog die Decke höher.
»Gehen Sie und ziehen Sie sich an. Holen Sie Ihren Hut und Ihre Tasche.«
»Oh, wohin fahren wir denn?«
»Ins Dorf. Wir brauchen Vorräte – und einige Dienstboten.«
Er schritt durch den Innenhof auf den Stall zu. Selene lächelte, davon überzeugt, dass er nicht Dienstboten, sondern
Anstandsdamen
meinte.
Weiß getünchte Cottages mit Strohdächern standen an der Straße, die durch die Mitte des Dorfes Dornenmoor führte. Es war die einzige Straße, und sie wurde immerhin von einigen ein- und zweistöckigen Läden gesäumt, die allerdings im Vergleich zu denen in London zwergenhaft waren. Was für ein merkwürdiges Bild sie und Rourke abgeben mussten. Jeder andere wäre mit einem einfachen Wagen oder einem Zweispänner in den Ort gefahren. Sie und Rourke statteten dem Dorf ihren ersten Besuch Seite an Seite auf dem erhöhten Kutschbock von Avenages Stadtkutsche ab.
Bewohner kamen unter ihre Vordächer, um sie anzustarren. Selene nickte und lächelte und winkte mit einer behandschuhten Hand.
»Da ist Ihr Brand«, bemerkte Rourke und deutete auf die winzige Kirche, die umgeben war von einem säuberlich gepflegten Stück grünen Grases und einem niedrigen, gusseisernen Zaun.
Aber schockierenderweise verschandelte ein gezacktes schwarzes Loch das Dach des schlichten weißen Gebäudes. Der Turm lag im Innenhof, bis auf den Sockel verkohlt.
»Meine Güte«, flüsterte sie.
Mehrere Männer mit langen Gesichtern standen um das gefallene Monument herum, die Hüte in den Händen, während sie offensichtlich über die notwendigen Reparaturen nachgrübelten.
»Sieht nach einem Blitzanschlag aus«, meinte Rourke.
Er zog an den Zügeln und hielt die Kutsche vor einem schmalen Laden an, der sich von den anderen unterschied, weil er in einem auffälligen Blauton gestrichen war. Säuberlich auf das Schaufenster geschrieben stand in goldenen, deutlichen Lettern das Wort »Lebensmittelhändler«.
Rourke sprang von der Bank, ging um die Kutsche herum und half ihr – sie vermutete, um des äußeren Anscheins willen – herunter. Er hielt die Tür für sie auf und folgte ihr hinein.
Im Innern des schmalen Geschäfts hingen Körbe von der Decke. Regale, Stoffballen und Holzkisten aller Größen säumten die Wände, und an manchen Stellen stapelten sie sich bis zu Decke empor. Ein Mann eilte hinter der hölzernen Kasse hervor. Auf seinem Kopf, dessen Haar sich lichtete, prangte eine runde Drahtbrille.
»Guten Tag, Sir«, sagte Rourke. »Ich bin …«
»Lord Avenage?«, erkundigte
Weitere Kostenlose Bücher