Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
sie: »Sir …«
Eine behandschuhte Hand schoss aus dem Umhang hervor und packte sie am Unterarm. Die Welt drehte sich. Der Schauspieler drängte sie in die Gasse. Ein Schrei kam aus Richtung der Kutschen.
Er riss an ihrem Haar. Schmerz schoss durch ihre Schläfe.
»Au!«, rief sie.
Metall blitzte auf. Eine Klinge. Auf dem Gehsteig der Bond Street kamen Schritte schnell näher.
Etwas traf sie am Brustbein und fiel zu Boden. Der Angreifer floh in die Gasse.
Mina rang um Luft. Zu ihren Füßen lag eine Rose wie die, die er dem Jungen gegeben hatte.
Der Diener der Traffords kam mit grimmiger Miene um die Ecke gerannt. »Sind Sie unversehrt, Miss?«
»Ja.« Sie presste sich eine Hand auf die Brust und versuchte, das wilde Schlagen ihres Herzens zu beruhigen.
Der Kutscher wandte sich in die Gasse, um die Verfolgung aufzunehmen. Einige Momente später kehrte er keuchend und mit rotem Gesicht zurück. »Es tut mir leid, Miss. Er ist entkommen. Ich kann nicht einmal sagen, in welche Richtung er gelaufen ist.«
Eine Anzahl Schaulustiger scharte sich um sie, angelockt von der Aufregung. Ein Wachtmeister blies in seine Pfeife und zwängte sich durch die Menschenmenge. Nach einer kurzen Befragung begleitete er Mina zu dem Schreibwarenladen. Dort wurde Mina unter Ausrufen des Entsetzens von Lucinda und ihrer Bekannten, Ms. Avermarle, auf einen samtbezogenen Hocker gesetzt. Die Mädchen, die in dem Bekleidungsgeschäft anscheinend von dem Zwischenfall gehört hatten, kamen kurz darauf hereingestürzt.
Eine kurze Haarsträhne baumelte über Minas Wange, die andere Hälfte grob abgetrennt. Sie sollte vermutlich dankbar sein, dass ihr Angreifer nicht mehr genommen hatte.
Evangeline zog eine Nadel aus ihrem eigenen braunen Haar und steckte die gestutzte Locke fest.
»So, jetzt merkt man nichts mehr«, versicherte sie ihr.
Astrid berührte Mina an der Schulter; sie wirkte schockierter, als Mina sich selbst fühlte. »Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht, Mina?«
Mina nickte, außerstande, die Erinnerung an die Maske abzuschütteln. »Mir geht es wirklich gut. Ich habe mich nur erschreckt. Euer Gnaden hatten vermutlich recht, ich hätte den Diener bitten sollen, mich zu begleiten. Ich habe es einfach nicht für nötig gehalten.«
»Was wird nur aus dieser Stadt?«, flüsterte Lucinda und drückte Minas Schultern. »Offensichtlich brauchen wir mehr Polizisten, die Streife gehen.«
Ein Wachtmeister skizzierte die Einzelheiten in einem kleinen Notizbuch. »Wir tun unser Bestes, Mylady, um die Schurken von den besseren Straßen fernzuhalten, aber manchmal schlüpfen sie uns durch die Maschen. Für gewöhnlich sind sie einfach nur lästig. Ich nehme jedoch an, dass dieser Bursche ein gewöhnlicher Verbrecher in der Verkleidung eines Straßenschauspielers war. Die Kühnheit seines Verbrechens ist schockierend, aber es ist nicht der erste Haardieb, von dem wir wissen.«
Lucinda warf Mina einen Blick zu. »Lasst uns nach Hause fahren.«
Die Gesichter der Mädchen wurden lang vor Enttäuschung. Sie taten Mina leid. Sie hatten eine Woche ihrer Debütsaison geopfert, um Minas Vater zu betrauern, einen Fremden, und dann waren sie mehrere Tage ins Haus eingesperrt gewesen, während die Vorbereitungen für das Gartenfest getroffen wurden. Und wirklich, Mina wollte nichts mehr, als den Zwischenfall vergessen.
Mina versicherte Lucinda: »Mir wäre es lieber, wenn wir wie geplant nach Hurlingham fahren würden.«
Leeson kam um den Tisch herum. »Apropos Gefahr, Ihr Postfach enthielt eine Anzahl von Briefen, die ihrem Duft nach von verschiedenen Damen stammen. Außerdem haben wir eine Reihe von Visitenkarten und Einladungen bekommen.« Er blätterte in dem Stapel.
Mina. Schon bei der Erinnerung an sie wurde etwas in ihm weniger hart, weniger zornig. Es war eine Sache, Leeson in seinem Dienst zu belassen, aber vielleicht … Skelette? Brennendes orangefarbenes Licht? Vielleicht wurden die Dinge zu gefährlich. Vielleicht wurde er zu gefährlich. War es trotz ihres Wunschs, Distanz zu wahren, falsch von ihm, sie in diese Sache hineinzuziehen? Nachdenklich trat er an den Tisch.
Wann hatte er sich je über irgendjemanden außer sich selbst Sorgen gemacht? Er weigerte sich, jetzt damit anzufangen.
Leeson breitete drei Briefe nebeneinander aus. Mark runzelte die Stirn. Er erkannte die Handschrift bei einem davon und sparte ihn sich für den Schluss auf. Als er einen der anderen Umschläge aufriss, quoll der Duft von Lavendel heraus.
Weitere Kostenlose Bücher