Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
mir sprechen. So abwertend.«
Er ging zum Fenster und schaute mit funkelnden Augen hinaus. Er wirkte frustriert, und sie begriff, dass er keine Ahnung hatte, wie er mit ihr umgehen sollte. War sie so anders als andere junge Frauen?
Es traf sie, dass er ihr nicht einmal in die Augen schauen konnte. Unerwartet überflutete sie eine Welle der Einsamkeit.
»In zwei Wochen werden Sie London verlassen haben, und ich werde meine Flitterwochen mit irgendeinem aristokratischen Lackaffen verbringen, der mich nur deshalb geheiratet hat, weil Sie ihm eine lächerliche Summe Geld in den Rachen geworfen haben. Was werden meine Wünsche dann noch zählen?«
Sie wollte seine Antwort nicht hören. Stattdessen rauschte sie aus dem Raum und hielt nur inne, um ihren Stapel Zeitungen mitzunehmen, und sei es auch nur, um ihren zitternden Händen etwas zu tun zu geben.
Er hatte recht. Sie hätte nicht so kühn zu ihm sprechen sollen. Ihre Wangen brannten. Was war über sie gekommen? Vielleicht trachtete sie danach, ihn zu provozieren, zu verlangen, was immer er ihr an Aufmerksamkeit zuvor nicht geschenkt hatte. Das schien so gar nicht zu der Elena zu passen, die sie in diesen letzten Monaten kennengelernt hatte.
Sie wusste nicht, wer sie war! Sie wusste nur, dass ihr ihre ganze Existenz verleidet war.
Sie hatte schwer gearbeitet, um ihr wahres Ich zu entdecken und um ihrem komplizierten Leben eine klare Linie zu geben, doch durch seine Ankunft in London war alles auf den Kopf gestellt worden.
Mary Alice kam vom Küchentrakt her auf sie zugeeilt. »Oh, Ms. Ich habe darauf gewartet, dass Sie aus dem Arbeitszimmer Seiner Gnaden kommen, damit ich es Ihnen erzählen kann. Haben Sie die schrecklichen Neuigkeiten gehört?«
Oh ja. Sie hatte die schrecklichen Neuigkeiten gehört. Ihr Vormund, der Mann, der vor dem Gesetz die Kontrolle über ihr Leben hatte, würde wahrscheinlich verlangen, dass sie von allem abließ, was für sie zählte, und eine lieblose Ehe einging. Und das alles aus selbstsüchtigen Gründen. Aber irgendetwas sagte ihr, dass das Gesicht des Mädchens nicht deswegen totenbleich war.
»Was gibt es denn, Mary Alice?«
»Gestern Nacht hat es in Whitechapel zwei weitere Morde gegeben.«
7
»Nein!«, stieß Elena hervor. Ihre eigenen Probleme waren auf der Stelle vergessen. »Zwei? Zwei Frauen?«
Das Hausmädchen nickte zur Bestätigung.
Lizzy und Catherine, hämmerte es in ihren Gedanken. Nein, gewiss nicht. Höchstwahrscheinlich waren sie irgendwo in Sicherheit und tranken eben jetzt ein morgendliches Glas in ihrem Lieblingspub um die Ecke.
»Sind Sie sich sicher? Oder ist das nur ein Gerücht?«
»Es ist bestimmt wahr, Ms Mr Watkins, der Diener, hat es mir erzählt, und er war nie die Art Mann, die Scherze macht.«
»Könnte es bereits in den Morgenzeitungen stehen?«
Sie ließ ihren Stapel auf einen nahen Tisch fallen, blätterte die Zeitungen durch und überflog die Daten. »Hier ist die Lloyd’s von heute Morgen. Mal sehen … oh, meine Güte. Ja. Eine Sonderausgabe, und sieh dir nur die Schlagzeile an. Weitere Tragödien im East End.«
»Also ist es wahr«, flüsterte Mary Alice.
»Ich werde die Einzelheiten vorlesen. An diesem Sonntagmorgen … grauenhafte Ermordung einer Frau in Aldgate. Das Opfer … oje …«
Elena schloss die Augen, um die Worte nicht mehr sehen zu müssen. Kehle durchgeschnitten. Verstümmelt. Aufgeschlitzt.
Sie schüttelte den Kopf. »Die Einzelheiten sind zu schrecklich, um sie laut vorzulesen.«
Mary Alice schauderte und schlang die Arme um sich. »Gott sei ihren Seelen gnädig.«
Elena las mehr von dem Artikel. »Sie beschreiben den Mörder als diabolisch schlau. Sie müssen wohl recht haben. Welche Art Mensch könnte einem anderen Menschen so etwas antun? Er – oder sie – muss einfach wahnsinnig sein.«
Mary Alice überlegte laut: »Manche Leute glauben, diese Frauen hätten verdient, was sie bekommen haben, weil sie« – sie senkte die Stimme – » Damen von zweifelhafter Tugend und nymphoman sind.«
Elena zog die Brauen zusammen. »Lächerlich. Ich arbeite im Hospital mit diesen Frauen . Sie sind genau wie du und ich, nur dass sie schlechte Zeiten durchmachen und von der Gesellschaft im Stich gelassen wurden. Sie haben keine andere Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«
Mary Alice nickte ernst. »Es könnte jeder von uns passieren, nehme ich an. Die armen Seelen. Aber wenn wir gerade von schlechten Zeiten sprechen, ich möchte meine eigene Position
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