Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
geschworen, dass Elena keine Ablenkung sein würde, aber genau das war sie von dem Moment an gewesen war, als er zum ersten Mal den Blick seiner uralten, müden Augen auf sie gerichtet hatte. Er sollte sie einfach gehen lassen, aber die Vorstellung, dass sie ohne Begleitung und Schutz umherwanderte, verursachte ihm Unbehagen.
Jack war irgendwo da draußen, und »irgendwo« war zu nah, wenn es um Elena ging, selbst in dieser quirligen Stadt mit Millionen von Menschen. Verflucht, er musste den Mistkerl schnell zur Strecke bringen.
Archer trommelte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch und gestand angespannt: »Ms Whitney hat heute Morgen klargemacht, dass unser geplantes Arrangement nicht nach ihrem Geschmack ist. Ich glaube – obwohl sie es nicht eigens gesagt hat –, dass sie ihre Unabhängigkeit bevorzugen würde.«
Während er über eine geziemende Reaktion nachdachte, schaute er zur Seite, in den Garten. Nur Sekunden zuvor hatte Mrs Hazelgreaves im Wintergarten gesessen, aber jetzt sah er keine Spur mehr von ihr. Ihr offenes Schirmchen, rosafarbener Damast mit grauen Federn, lag auf seinen Griff gekippt auf dem Steinboden. Er würde einen der Diener hinschicken, den Schirm zu holen, denn sie musste ihn vergessen haben.
Leeson trat in sein Gesichtsfeld. »Unabhängigkeit? Das können Sie nicht zulassen, Mylord. Unser zartes Mädchen sollte an keinem Tag allein in dieser Stadt sein, erst recht nicht heute. Die Neuigkeit über den Doppelmord hat sich verbreitet, und in der Stadt herrscht heller Aufruhr.«
Archer schloss die Augen und rieb sich müde den Nasenrücken; er hatte erwartet, das zu hören. Leeson ließ sich auf einen gepolsterten Mahagonistuhl fallen.
»Der Mob ist auf den Straßen und ruft nach Blut. Die Menschen benehmen sich wie Wahnsinnige und verdächtigen jeden des Mords und des Irrsinns.« Er sprang wieder auf. »Ich werde sie finden und nach Hause bringen, wo sie sicher vor all den verkommenen Subjekten ist, die die Straßen dort draußen bevölkern.«
»Ich werde gehen«, warf Archer ein und stand auf.
Wenn er jetzt aufbrach, würde er noch in der Lage sein, ihre Fährte aufzunehmen. Außerdem musste er sich jetzt, da er seine Gedanken geordnet hatte, dem brodelnden Unmut in der Stadt stellen. In diese Stimmung einzutauchen, würde die tödliche Präzision seines Instinkts hervorrufen, nach der er suchte. »Sie bleiben hier und beenden Ihre Durchsicht der Bücher.«
Leeson wedelte mit der Hand. »Für die Bücher ist noch genug Zeit. Ich werde mit Ihnen gehen. Wer weiß, wohin oder wie weit sie inzwischen gegangen ist. Wir können das Stadtgebiet unter uns beiden aufteilen.«
»Machen Sie die Bücher fertig, Leeson. Ich werde sie nach Hause bringen.«
Eine Viertelstunde später stieg Archer die Steintreppen zum Bahnhof Baker Street hinunter. Reisende tummelten sich auf dem Bahnsteig und warteten auf den nächsten Zug. Fast all ihre Gedanken kreisten um die schrecklichen Neuigkeiten des Morgens.
Ein Zeitungsjunge machte die Runde und rief: »Ripper tötet wieder. Zwei Morde, erst gestern Nacht.«
Die Zeitungen wurden ihm aus der Hand gerissen, eine nach der anderen, beinahe schneller, als er die Münzen dafür einsammeln konnte.
Archer fand Elena abseits an einem Ende des Bahnsteigs bei zwei älteren Damen. Offenbar wollte sie den Eindruck erwecken, dass sie sie irgendwie begleitete, entweder als eine ärmere Verwandte oder als Hausmädchen. Sie sah ihn natürlich nicht, weil er ihr als Schatten gefolgt war. Wie Leeson berichtet hatte, hatte sie sich wie eine Frau aus der Unterklasse gekleidet: Sie trug ein schäbiges schwarzes Strohhütchen, geschmückt mit einem Sträußchen schwarzer Stoffblumen und einem künstlichen roten Vogel, dazu einen fadenscheinigen schwarzen Mantel und einen grau gestreiften Rock. All das war wahrscheinlich gebraucht bei einem Straßenhändler erworben worden. Eine abgeschabte rissige Handtasche hing von ihrem Handgelenk.
Metallisches Kreischen, blendendes Licht und Dampfwolken verkündeten die Ankunft des nach Osten fahrenden Zugs. Archer folgte Elena in den Waggon zweiter Klasse, wo sie ihre Fahrkarte dem Schaffner vorwies und auf der Bank neben den beiden Frauen Platz nahm. Archer stellte sich in den Gang vor ihr. Als sich der Zug ruckelnd in Bewegung setzte, zog sie aus ihrer Tasche ein kleines, in blaues Leinen gebundenes Buch. Er konnte einen Blick auf den Titel werfen, bevor sie es aufschlug, um mit dem Lesen zu beginnen. Die
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