Shadow Touch
einer langen Nase stand genau vor ihrem Fenster und beschimpfte eine junge Blondine, die ein Kind in den Armen hielt. Sie wirkte verzweifelt, arm. Ihr Gesicht war gerötet. Der Mann warf die Arme in die Luft und wandte sich ab. Die Frau machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen, sondern schrie ihm etwas zu; ihre Worte wurden von einigen der Umstehenden mit Kopfschütteln quittiert. Der Mann ging weiter. Die Frau starrte ihm nach, zusammengesunken und schwankend.
»Was ist passiert?«, erkundigte sich Elena leise. Sie konnte ihren Blick nicht von der Szene losreißen. Das Baby schlief in den Armen der Frau. Es hatte ein wunderschönes Gesicht.
»Er will sie nicht mehr.« Arturs Stimme klang dumpf und müde. »Er hat schon eine Frau in Moskau, und auch ein Kind. Diese Frau hier ist seine Geliebte.«
»Was hat sie zu ihm gesagt?«
Arturs Kiefer mahlten. »Dass sie das Baby weggeben würde. Wenn er sie nicht wollte, würde sie seine Tochter einfach aussetzen.«
»Oh!«, stieß Elena hervor. »O nein!«
Artur trat von dem Fenster zurück und setzte sich auf das Bett. Elena beobachtete die Frau noch eine Weile, bis diese sich aufrichtete und von dem Zug fortging. Elena starrte ihrem schwankenden Rücken nach, dem Kopf des Babys. Sie wünschte ihnen ein gutes Leben. Sie betete dafür.
Artur starrte auf seine behandschuhten Finger hinab. Elena konnte sein Gesicht nicht sehen und setzte sich neben ihn, Schenkel und Schultern fest aneinandergedrückt, nah, ganz nah durch die Berührung, und legte dann ihre Hand in seine. Einen Herzschlag später schloss er die Finger und hielt sie fest. Seine Hand fühlte sich gut an, besser als das meiste, was Elena in ihrem ganzen Leben gefühlt hatte. Ihr schien, als wäre seine Hand ein Anker, der sie sicher in der Welt hielt, fest, stark und warm.
»Russland ist ein armes Land«, er drückte ihre Hand sanft. »Und in armen Ländern geben Menschen ihre Kinder fort, damit sie ein besseres Leben haben können.«
Elena dachte an ihre Mutter. »Die Menschen geben ihre Kinder aus allen möglichen Gründen weg. So etwas passiert auch in reichen Ländern.«
Er nickte, ohne den Blick von ihren verschränkten Händen loszureißen. »Wie bist du damit zurechtgekommen, Elena? Was hast du gemacht, als du im Stich gelassen wurdest?«
Sie zuckte überrascht zurück, aber Artur ließ ihre Hand nicht los. Sie wollte ihn fragen, woher er das wusste, aber die Antwort war ganz einfach. Er hatte sie berührt. Sie hatte ihn berührt. Außerdem gab es da noch diese Verbindung zwischen ihnen. Ein Mann wie Artur konnte alles sehen, wenn man ihm die Chance dafür gab.
»Wie viel weißt du?«, fragte sie. Es schmerzte sie, über ihre Mutter zu sprechen.
»Nur, dass sie dich verlassen hast. So ähnlich, wie meine Mutter mich verlassen hat, glaube ich.«
Elena leckte sich die Lippen. Ihr Mund fühlte sich plötzlich wie ausgetrocknet an. »Sie hat versucht, mich umzubringen. Jedenfalls sah es so aus. Wir hatten eine Axt, in dem alten Schuppen. Sie hat sie genommen und auf meine Hände gezielt.«
»Wegen deiner Gabe?« Seine weichen braunen Augen sahen sie wissend an.
»Wegen meiner Gabe. Sie kam damit nicht zurecht. Mein Großvater ... er hat mir später erzählt, dass auch sie Dinge tun konnte. Sie konnte ... Menschen in ihrem Kopf hören. Das hat sie fast verrückt gemacht. Sie hasste das, was sie war. Sie dachte wohl, ich würde es auch hassen, wenn ich älter wurde. Vielleicht hatte sie auch Angst davor, was passieren würde, wenn die Leute es herausfanden. Dass sie mich misshandeln würden. Oder sie. Jedenfalls wollte meine Mutter, dass es aufhörte. Sie hielt es für unnatürlich.«
»Du heilst«, erwiderte er. »Du bist ein Wunder.«
»Möglich.« Elena wandte sich ab. »Aber Wunder tun weh, Artur. Wunder führen dazu, dass dich die anderen Menschen einsperren oder umbringen wollen.« Sie konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Elena«, sagte er leise, »gib dich nicht der Verbitterung hin.«
»Verbitterung?« Sie zwang sich dazu, ihm in die Augen zu sehen. Es war schwierig; sein Blick schien viel zu weitsichtig, so wie seine Hände. »Was erwartest du, Artur? Ja, ich tue Gutes. Und - ja, ich bin auch stolz darauf. Ich würde nichts ändern. Aber ob mir meine Gabe Glück gebracht hat? Richtiges Glück?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nur ... Isolation. Einsamkeit. Das nenne ich nicht gerade >das große Los ziehen<.«
»Du bist jetzt nicht mehr allein.« Er
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