Shadow Touch
der Menge untertauchte. Elena drehte sich herum, unmittelbar bevor sie einstieg. Der stille Mann war nirgendwo zu sehen, aber sie hatte das Gefühl, als hätte sie eine Zielscheibe auf dem Rücken, und spürte immer noch jenen Stich zwischen ihren Schulterblättern. Diesen Schmerz würde sie niemals vergessen, ihr ganzes Leben lang nicht. Solche Erinnerungen gruben sich tief in den Körper ein.
Im Zug war es dunkel und stickig. Elena roch Zigarettenrauch und den Geruch von altem Bratfett. Die Kombination bereitete ihr Übelkeit. Sie grub ihre Fingernägel in die Handflächen. Erbrechen verboten. Jedenfalls jetzt.
Sie schoben sich nacheinander durch den engen Gang, begleitet von den Geräuschen zuschlagender Türen und knirschenden Metalls. Der Boden vibrierte leicht. Die Leute vor ihnen, das amerikanische Paar aus dem Hotel, blieben stehen, gingen einen Schritt weiter und blieben wieder stehen, während sie nach einem freien Abteil suchten. Schließlich fanden sie eines, und Artur drängte sich rasch an ihnen vorbei. Elena spürte Amiri hinter sich; er hatte es auch eilig. Sie selbst empfand ebenfalls den Drang, sich zu verstecken, wie eine kleine Maus ein Loch zu finden, wo sie sich warm und geschützt niederkauern konnte. Hüte dich vor der Eule, vor der Spinne, der langen Reichweite der Gefahr, die gierig mit einem schwarzen, wässrigen Auge nach ihr suchte.
Jedes Abteil hatte zwei Betten. Sie na hm en die beiden letzten Abteile auf dem Gang, gleich neben dem Notausgang. Als Elena den Kopf hinausstreckte, sah sie, dass der Notausgang nur eine offene Plattform war, die einen möglicherweise tödlichen Sprung aus dem Zug erforderte, falls es tatsächlich zu einem Notfall kam. Aber immerhin war es ein Ausgang. Besser als nichts.
Als sie sich herumdrehte, waren Amiri und Rik bereits in einer Kabine verschwunden. Artur stand in der Tür der anderen und hielt sie für Elena auf.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus«, sagte er.
»Nein«, antwortete Elena. Aber das stimmte nicht. Sie wollte hier zwar nicht allein sein, aber ihre Gefühle für Artur waren so stark und verwirrend, dass sie sich selbst in seiner Gegenwart nicht vertraute.
Ihr Abteil war winzig, mit getäfelten Plastikwänden in Holzdekor und einem harten Metallboden. Gleich gegenüber der Tür gab es ein kleines Fenster mit einem gelben Spitzenvorhang. Dessen zarter Rand bewegte sich in der heißen Luft, die von der elektrischen Heizung am Boden hochstieg. Direkt unter dem Fenster befand sich ein winziger Plastiktisch. An den beiden Seiten der Kabine waren die zwei Pritschen angebracht.
»Sieht ziemlich ungemütlich aus«, sagte Elena schließlich, um das Schweigen zu brechen.
»Es ist das Beste, was man im Rossiya bekommen kann«, sagte Artur. »Wir können von Glück sagen, dass Mikhail in spendabler Stimmung war.«
Elena unterdrückte ein Lachen. »Ich glaube, dieses Verdienst geht vor allem auf deine Kappe. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so überzeugend reden kann.«
Artur zuckte die Achseln. »Es ist eine Fähigkeit wie jede andere auch. Um zu überleben, tut man, was man muss.«
»Dann haben dich Worte wohl ziemlich lange am Leben gehalten, was?«
»Nicht nur Worte.« Arturs Stimme klang so schwer, dass sich die Härchen an ihrem ganzen Körper aufrichteten.
Es klopfte an die Tür, Rik steckte den Kopf in das Abteil und betrachtete die Betten. »Ihr habt auch noch keine Laken.«
»Die bringt eine Zugbegleiterin«, sagte Artur. »Einen Moment.«
Er glitt an Elena vorbei und drückte ihr kurz die Hand. Bei der Berührung seines Lederhandschuhs auf ihrer Haut - das Leder war warm von seiner Haut - krampfte sich ihr der Ma-gen zusammen. Oh, das war eine schlechte Idee. Ein Abteil mit ihm zu teilen würde nicht funktionieren. Vielmehr, es würde viel zu gut funktionieren.
Elena trat zu Rik auf den Gang hinaus. Sie sah Artur nach, der davonging; eine große, schlanke, schwarz gekleidete Gestalt. Seine Schultern waren fast zu breit für das gestohlene Hemd, die Jeans sehr eng.
Perfekt. Elena sah Rik an und bemerkte, dass er sie mit einem wissenden Lächeln beobachtete.
»Was?«, fuhr sie ihn errötend an.
»Nichts«, erwiderte er. »Ich hoffe nur, dass Amiri und ich heute Nacht ein bisschen Schlaf bekommen.«
»Schwein!«
»Nur wenn sie Flossen haben.«
»Haben sie, fort jetzt.« Amiri trat zu ihnen und sah Rik streng an. Elena lächelte. Am Ende des Ganges war Artur stehen geblieben und sprach mit einer alten Frau, die eine
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