Shadowblade: Dunkle Fesseln: Roman (Knaur HC) (German Edition)
es einen Moment lang wie das Saatkorn eines Eisbergs lag. Dann bemerkte sie, wie es sich öffnete . Es entfaltete sich wie die Blüte einer eisigen Rose. Plötzlich wurde die Kälte zu Hitze, die aufloderte und aus Max hervorbrach wie eine nukleare Wellenfront. Max schnappte nach Luft und sank auf die Knie. Ihr Herz pochte wie wild. Plötzlich war die Hitze fort. Mit zitternden Armen und Beinen holte sie Luft. Langsam drückte sie sich auf die Beine hoch und lehnte sich an die Wand. Sie gestattete sich nur einen kurzen Moment der Ruhe.
Es war Zeit, durch die Spießrutengasse zu gehen.
Sie sammelte sich und dachte an Horngate und ihren Wunsch, dorthin durchzukommen, damit sie helfen konnte. »Sie brauchen mich – lasst mich durch«, sagte sie laut und trat ihren Weg zwischen die milchig blauen Spinnweben an.
Zuerst fühlte sie sich, als ginge sie durch einen klebrigen Nebel. Die Magiefasern blieben an ihr hängen, wurden von den Wänden losgerissen und hüllten sie Lage für Lage in einen Kokon. Hinter ihr wuchsen neue Fäden aus den Wänden.
Sie kam etwa sieben Meter weit, bevor es immer schwerer wurde. Es kam ihr vor, als stemmte sie sich gegen einen steifen Wind. Das Netz wurde immer dichter, die Stränge dicker. Max verzog grimmig den Mund. Das war erst der Anfang.
Zwanzig Meter weiter schlug sie mit den Händen auf die Magie ein. Das Netz bestand nun aus dicken Seilen, die sich wanden und sich um Max verknoteten wie Schlangen. Sie sanken durch ihre Kleidung hindurch, in ihre Haut und in ihren Körper. Blind saugten sie an ihrer Seele – an ihrer Essenz. Sie wurde bei lebendigem Leibe aufgefressen, genau wie beim letzten Mal.
»Lasst mich durch!«, brüllte sie, aber nichts und niemand antwortete.
Mit jedem verstreichenden Augenblick wurde sie schwächer. Sie schob sich verzweifelt weiter vor. Diesmal würde sie nicht umkehren. Es hieß alles oder nichts.
Nach vierzig Metern konnte sie kaum mehr die Arme heben. Ihre Beine waren bleischwer. Sie hatte jedes Zeitempfinden verloren. Sie musste sich zwingen, sich weiterzuschleppen. Sie spürte, wie sich ihr Fleisch über den Knochen zusammenzog und wie ihre Haut sich lockerte wie ein ausgeleierter Lumpen.
Und schließlich erreichte sie den Punkt, von dem es kein Zurück mehr gab. Sie wusste, dass es so war, wenn auch nicht, woher. Nur einen Schritt weiter und sie hätte nicht mehr die Kraft für den Rückweg. Dornige Ranken der Angst gruben sich durch ihr Inneres. Wie weit war es noch? Würde sie es überstehen? Würde sie noch zu irgendetwas zu gebrauchen sein, wenn sie es schaffte?
Sie wankte. Die Magie hüllte ihren Kopf ein, und sie sah nur schimmernde blauweiße Schatten. Sie fühlte sich ausgedörrt und zerbrechlich. Ihre Zunge kam ihr vor wie ein Stück Holz in ihrem Mund. Sie konnte nicht mal mehr blinzeln, und aus ihren inneren Organen schienen harte Lehmklumpen geworden zu sein.
Sollte sie zurückgehen?
Die Entscheidung war bereits getroffen. Giselle hatte diesen Eingang eigens für Max angelegt. Wenn sie vorausgesehen hatte, dass er benötigt werden würde, hatte sie auch vorausgesehen, dass Max ihn benutzen würde.
Sie stolperte weiter vorwärts. Ein Moment kristallklarer Ruhe und in jenem Tropfen der Stille das plötzliche Bewusstsein, dass dort etwas war, das sie erwartete.
Max hatte keine Zeit, um nachzudenken, was sie tun sollte. Sie wurde aus ihrem Körper gerissen. Klauen stachen sie und bohrten sich tief in sie hinein. Etwas schüttelte sie und schleuderte sie von einer Seite zur anderen wie ein Eichhörnchen im Maul eines Hundes. Dann prallte sie gegen irgendetwas. Sie spürte, wie sich Risse durch ihren Geist zogen, durch ihre Seele. Stückchen ihrer selbst flatterten davon. Als Nächstes presste etwas sie zusammen und kehrte sie dann von innen nach außen.
Es war ein schlimmerer Angriff als alles, was sie jemals von Giselle hatte ertragen müssen. Sie konnte nichts verstecken. Lautlos schrie sie. Verzweifelt versuchte sie zu kämpfen, sich zusammenzureißen.
Immer fester schloss die Magie sich um sie, wand sich und drückte sie zusammen. Max zerbrach. Wie Blütenblätter trieben ihre Splitter in einem trägen Wind. Sie hatte keinen Namen, keine Ziele, keine Gelüste, keine Träume. Sie war nichts. Die Blütenblätter rollten sich ein, verblassten von Blauweiß zu Grau und zerstäubten zu nichts.
Horngate.
Das Wort stieß etwas in ihr an. Wo kam es her? Was war es?
Bedürfnis.
Ein schlagartiges Gefühl verzweifelter
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