Shadowfever: Fever Saga 5 (German Edition)
einen der seltenen Blicke in Barrons’ Herz riskiert. Ich könnte die Augen zumachen und wäre wieder in der Wüste mit ihm.
Es ist Dämmerung. Wir halten ein Kind in unseren Armen.
Ich starre in die Nacht.
Ich will nicht nach unten schauen.
Will nicht sehen, was in seinen Augen ist.
Andererseits kann ich mich nicht abwenden.
Widerwillig und doch fasziniert senke ich den Blick.
Das Kind betrachtet mich voller Vertrauen.
»Aber du bist gestorben!«, protestierte ich.
Der Junge kroch in meine Richtung, legte die kleinen Hände um die Stäbe und stellte sich hin. Ein wunderschöner Junge. Dunkles Haar, goldene Haut, dunkle Augen. Er konnte seinen Vater nicht verleugnen. Seine Augen waren warm, sanft.
Und ich bin Barrons und sehe auf ihn nieder.
Seine Augen sagen: Ich weiß, dass du mich nicht sterben lässt.
Seine Augen sagen: Ich weiß, dass du den Schmerz aufhältst.
Seine Augen sagen: Vertrauen/Liebe/Bewunderung/Du-bist-vollkommen/Du-wirst-immer-auf-mich-aufpassen/Du-bist-meine-Welt.
Aber ich habe nicht genug auf ihn aufgepasst.
Ich kann ihm den Schmerz nicht nehmen.
Wir waren in der Wüste und hielten diesen Jungen in unseren Armen, verloren ihn, liebten ihn, weinten um ihn, und sein Leben entschwand …
Ich sehe ihn dort. Seine Vergangenheit. Seine Gegenwart. Die Zukunft, die nie sein wird.
Ich sehe seinen Schmerz, und es zerreißt mich.
Ich sehe seine absolute Liebe, und sie beschämt mich.
Er lächelt mich an. All seine Liebe leuchtet aus seinen Augen.
Sie verblasst langsam.
Nein!, brülle ich. Du wirst nicht sterben! Du wirst mich nicht verlassen!
Ich starre lange in seine Augen – tausend Jahre, wie es mir scheint.
Ich sehe ihn. Ich halte ihn. Er ist da.
Er ist nicht mehr.
Aber er war noch am Leben. Er war hier, mit mir. Der Jungedrückte das Gesicht an die Gitterstäbe und lächelte. All seine Liebe leuchtete aus seinen Augen. Ich schmolz dahin. Wenn ich Mutter sein könnte, würde ich diesen Jungen zu mir nehmen und für immer für ihn sorgen.
Ich erhob mich, bewegte mich wie in Trance. Ich hatte dieses Kind in Barrons’ Bewusstsein in den Armen gehalten. Als Barrons hatte ich es geliebt und verloren. Indem ich diese Vision mit ihm teilte, wurde die Trauer auch zu meiner Trauer.
»Ich verstehe das nicht. Wieso lebst du? Warum bist du hier?« Warum hatte Barrons seinen Tod erlebt? Es stand außer Frage, dass er das hatte. Ich war dabei gewesen und hatte mitgefühlt. Es war eine Reminiszenz an die Trauer, die ich wegen Alina empfand …
Komm zurück, komm zurück, willst du schreien … nur noch eine Minute. Nur noch ein Lächeln … eine Chance, alles richtig zu machen. Aber er ist tot. Er ist fort. Wohin ist er gegangen? Was passiert mit dem Leben, wenn es schwindet? Geht es an einen anderen Ort, oder ist es einfach weg?
» Wieso bist du hier?«, fragte ich verwundert.
Er sprach mit mir, aber ich verstand kein Wort. Er benutzte eine längst tote, vergessene Sprache. Aber ich hörte den klagenden Ton und ein Wort, das klang wie Mama.
Mit einem erstickten Schluchzen streckte ich die Arme nach ihm aus, griff durch die Stäbe und umfasste seinen kleinen, nackten Körper. Sein dunkler Kopf schmiegte sich an meinen Hals, Fangzähne durchbohrten meine Haut, und der wunderschöne kleine Junge riss mir die Kehle heraus.
42
M ein Sterben dauert sehr lange.
Viel länger, als ich es für möglich halte.
Ich sterbe langsam und mit Schmerzen. Einige Male werde ich ohnmächtig und staune, dass ich das Bewusstsein wiedererlange. Ich habe Fieber. Die Haut an meinem Hals ist taub, aber die Wunde brennt, als hätte jemand Gift hineingespritzt.
Ich glaube, das Kind hat die Hälfte meines Halses zwischen seinen unwahrscheinlich dehnbaren Kiefern.
Er verwandelte sich in dem Moment, in dem ich ihn in die Arme nahm.
Mir gelang es, mich aus seinem unnatürlich starken Griff zu reißen und von dem Käfig wegzutaumeln, bevor die Verwandlung ganz vollendet war.
Aber es war zu spät. Ich war eine Närrin. Mein Herz brachte Barrons mit einem schluchzenden Kind in Zusammenhang, und ich war gerührt. Ich sah die Ketten, die Schlösser und Zauber als Barrons’ Methode an, die Sicherheit für sein Kind zu gewährleisten.
Doch in Wahrheit war es eine Maßnahme, um die Welt vor dem Kind zu schützen.
Ich liege sterbend auf dem Boden einer steinernen Höhle. Wieder verliere ich für einige Zeit die Sinne, dann bin ich zurück.
Ich beobachte, wie das Kind zur Nachtversion von Barrons als Tier
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