Shakespeares Hühner
da bist du! Hab schon auf dich gewartet ... Nein, sie schläft, muss sich erholen. Geh mal auf die Terrasse, ja? Ich leg sie nur rasch ins Bett.«
Doch Vincent blieb stehen; beide Hände in den Taschen seiner Kargohose, schob er den Oberkörper vor und blickte in den Gang. Dabei rümpfte er die Nase. »Das riecht aber komisch«, flüsterte er. »Als wenn unsere Katze gähnt. Die hat einen total schlechten Atem, jedenfalls nach dem Dosenfutter. Stimmt es, dass hier überall Leichen liegen?«
»Quatsch!«, erwiderte Oswald und drückte mit dem Ellbogen auf den Hebel der Kühlraumtür, hielt sie aber noch geschlossen. »Wer hat dir denn so was erzählt? Das ist eine normale Station. Die Kleine hier zum Beispiel, die wird morgen abgeholt. Sie ist geheilt. Und Tote kann man nicht entlassen, oder? Na los, wir sehn uns im Garten. Ich hab eine Überraschung für dich.«
Vincent öffnete den Mund, sagte aber nichts. Den Blick auf die Zehen des Mädchens gerichtet, den beschrifteten Zettel, ging er langsam zu seinem Bike, dessen Vorderrad sich immer noch drehte. Die Speichen gleißten wie etwas Flüssiges in der Abendsonne, und Oswald wartete, bis er vom Parkplatz gefahren war. Erst dann zog er die Tür einen Spalt breit auf und zwängte sich mit der Kleinen in den Raum, legte sie in eine Wanne. Man konnte ihr Augenweiß zwischen den Lidrändern sehen, und nachdem er sie vorsichtig zugedrückt hatte, desinfizierte er sich die Hände und ging auf die Terrasse.
Beide Arme um die angezogenen Knie geschlungen, hockte Vincent auf einem der Plastikstühle und blickte über die dämmrige Wiese. Im Innern der Villa brannte schon Licht, und die Männer in den blauen Monturen, fast alle mit keilförmigen Schweißflecken auf dem Rücken, hievten soeben einen riesigen, ganz in grauen Filz gewickelten Konzertflügel in den Wagen.
»Wir reisen schon früher«, murmelte der Junge, als Oswald sich zu ihm setzte. »Mama hat Krach mit eurer Oper. Vertragsbruch. Wenn die loslegt, spielt sich eine Diva ab, sagt Papa immer. Noch zehn Tage Deutschlandtournee, und dann geht’s in den Jumbo. Von Quantas, mit Kino und allem. Aber ich will gar nicht weg.«
Oswald verscheuchte eine Wespe, die sich dem bunten T-Shirt näherte. »Na, freu dich doch«, sagte er und kramte nach seinen Zigaretten. »Andere Kinder würden gern so viel in der Welt herumgondeln. Australien! Ist das nicht toll?«
Langsam schüttelte Vincent den Kopf. »Nein, es ist traurig. Keine zwei Monate sind wir hier, und in Mailand waren es auch nur sechs. Kaum hat man neue Freunde, muss man wieder fahren. Das macht mir richtige Bauchschmerzen, weißt du. Mit Fieber und allem. Und dann sagt Mama, ich soll mich nicht so anstellen, Reisen ist gut für meine künstlerische Entwicklung. Aber ich brauch gar keine. Ich will lieber in dem Haus da bleiben, mit unseren Büchern.« Grinsend sah er auf. »Und bei dir, bei meinem Riesen. Sie findet deinen Namen echt witzig, und Papa mag dich auch. Er sagt, du hast so lange Arme, du kannst dir die Knie im Stehen kratzen.« Er lächelte breit, beugte sich vor. »Stimmt das? Kannst du wirklich? Lass mal sehen, ja?«
Schwalben karriolten durch die Luft, das Schwirren der Flügel war zu hören, und Oswald drückte auf sein Feuerzeug und schwieg. Doch das Kind, die Augen groß, sprang vom Stuhl und klatschte in die Hände. »Ach, bitte, bitte! Zeig’s mir!«
Der andere schüttelte kurz einmal den Kopf. Die Wagen waren voll, die Packer schlossen die Türen, und er blickte in den Himmel über den Bäumen, das violette Rot, stieß den Rauch durch die Nase und murmelte: »Lass gut sein, Vincent. Ich bin nicht euer Zirkusaffe.«
Das Lächeln des Jungen erlosch, das Gesicht wurde fahl, und zwei, drei Herzschläge lang stand er wie erstarrt; nur die Finger bewegten sich ein wenig, und die Nasenflügel zuckten. »Aber wieso denn ... Ich dachte nur ... Ich wollte dich nicht kränken, Onkel Gabi! Du bist ja mein bester Kumpel«, sagte er und trat nah an den Sitzenden heran, drehte nervös an den Kittelknöpfen. »Bist du doch, oder? Ich rede immer nur Quatsch, kannst alle fragen. Aber ich meine das nicht böse, Ehrenwort!«
Er schluckte mehrmals, die Augen wurden feucht, und Oswald hob eine Hand und wagte doch nicht, das Kind zu berühren. »Nun ja, ist nicht schlimm. Ist schon in Ordnung, Vincent. Wir sind nicht aus Zucker«, antwortete er und strich sich über den Nacken, blickte zum Haus. »Komm, setz dich hin. Ich bin dein Freund, klarer Fall. Dein
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