Shakespeares ruhelose Welt
Port ist frei,
Kein Platz, an dem nicht strenge Wacht und Sorgfalt
Mir nachstellt.»
Er sieht, dass ihm nur ein Ausweg bleibt, nämlich die Verkleidung als vagabundierender Bettler:
«EDGAR: Retten will ich mich, solang’
Ich noch entfliehn kann: und ich bin bedacht,
Den allertiefsten, ärmsten Schein zu borgen,
In dem die Not den Menschen je zum Vieh
Erniedrigt. Mein Gesicht schwärz’ ich mit Schlamm,
Die Lenden schürz’ ich, zaus’ in Knoten all
Mein Haar, und mit entschloßner Nacktheit trotz’ ich
Dem Sturm und den Verfolgungen der Luft.»
Verfolgt, bedroht, unterwegs unter falscher Identität, um seinem blinden Vater helfen zu können – Edgar liefert eine auffällige Parallele zu einem geächteten katholischen Priester, maskiert und auf der Flucht.
Die Demaskierung eines Verkleideten ist in Shakespeares Stücken in der Regel ein Grund zur Erleichterung: Viola wird mit ihrem Bruder Sebastian vereinigt; Porzia und Nerissa werden ihren überraschten Ehemännern wieder zugeführt; Rosalinde kann sich ihrem geliebten Orlando schließlich zu erkennen geben. Für einen Katholiken im England um 1600 muss es, wenn sich ein Hausierer unerwartet als Priester zu erkennen gab, ein Moment ähnlich intensiver Freude gewesen sein – trotz der Risiken, die mit einer solchen Entdeckungverbunden waren. Dank eines Koffers wie diesem konnte, was einer glaubte, plötzlich im Ritual einer Messe gefeiert werden, eben das, was im Mittelpunkt seines Glaubens stand – zwar vom Gesetz verboten, nun aber wunderbarerweise doch möglich. Im eigenen Haus konnte ein Raum zur Kirche werden, konnten sich mit diesen Gewändern, mit Hostienschale und Kelch Familie und Freunde versammeln in seltener, verbotener Kommunion.
Bill Nighy als Edgar in König Lear , Nation Theatre, 1986. Edgars Rolle als Bettler Poor Tom gehört zu den eindrücklichsten Verkleidungsepisoden in Shakespeares Stücken.
Im nächsten Kapitel werden wir eine andere Gruppe von Menschen näher betrachten, die viele Elisabethaner mit Misstrauen beäugten – keine Katholiken, sondern solche, die Shakespeare in Heinrich V. das «Wiesel Schotte» nennen lässt.
Kapitel Fünfzehn
Die Flagge, aus der nichts wurde
Flaggen für Großbritannien
I n der Nacht des 26. März 1603 zügelte Sir Robert Carey sein galoppierendes Pferd vor Holyrood Palace in Edinburgh; er brachte heiß ersehnte Nachrichten. Direkt aus London kam er geritten, wo zwei Tage zuvor am frühen Morgen Königin Elisabeth gestorben war. Damit war eingetreten, wovor sich jedermann in England so lange gefürchtet hatte.
«CRANMER: Sie wird zu Englands [höchstem Glück] gesegnet
Mit hohen Jahren; viele Tage sieht sie,
Und keinen doch ohn’ eine Tat des Ruhms.
O sah’ ich weiter nicht! Doch sterben mußt du,
Du mußt, die Heil’gen woll’n dich; doch als Jungfrau,
Als fleckenlose Lilie senkt man dich
Hinab zur Erd’, und alle Welt wird trauern.»
Noch während alle Welt trauerte, mussten die englischen Politiker handeln. Kaum eine Stunde nach Elisabeths Tod wurde Jakob VI. von Schottland vom geheimen Kronrat, dem Sir Robert Cecil vorsaß, als ihr Nachfolger ausgerufen. Um zehn am nächsten Morgen proklamierte Cecil noch einmal Jakob I. als König von England, dieses Mal öffentlich in Whitehall. In Schloss Holyrood in Edinburgh wurde die Nachricht mit großem Wohlgefallen aufgenommen. Mit ihrer Langlebigkeit hatte sich Elisabeth nicht als typischeTudor erwiesen, entsprechend lange hatte Jakob warten müssen, mit unsicherem Ausgang. Nun, am 4. April 1603, nach acht Tagen für Vorbereitungen und Packerei, verließ er Holyrood, um seinen Anspruch auf die neue und wohlbestalltere Krone Englands einzulösen.
Zehn Jahre später, in ihrem gemeinsam verfassten Stück Heinrich VIII. , blickten Shakespeare und sein Mitautor John Fletcher zurück auf jenen entscheidenden Augenblick, in dem Jakob zu Elisabeths Nachfolger wurde und sich aller Hoffnung auf den neuen König richtete:
«CRANMER: So läßt sie einem andern allen Segen
(Ruft sie der Herr aus Wolken dieses Dunkels),
Der, aus der heil’gen Asche ihrer Ehre,
Sich, ein Gestirn, so groß wie sie, erhebt,
Glanzhell: Schreck, Friede, Fülle, Lieb’ und Treu’,
Die Diener waren dieses hehren Kindes,
Sind seine dann, wie Reben ihn umschlingend …»
Zum ersten Mal in der Geschichte stand die ganze Insel unter einem Regenten – nicht einmal die Römer hatten das erreicht. Jeder wusste, dass mit Jakob I. als König von England und Schottland
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