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Shana, das Wolfsmädchen

Shana, das Wolfsmädchen

Titel: Shana, das Wolfsmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Saiten.
    »Wenn du mir nichts tust«, sagte ich, »werde ich dir etwas vorspielen.«
    Ich sprach zu dem Tier im leisen Sington. Die Wolfsohren richteten sich hoch, das Tier horchte aufmerksam. Ich bemerkte, dass es sich um ein Weibchen handelte. Obwohl die Haare längs der Rückenmitte dunkel getönt waren, überwiegte die graue Farbe.
    Ein Zeichen dafür, dass das Tier nicht mehr jung war. Das Winterfell war dick und wuchs in Büscheln. Die Augen der Wölfin, golden, leuchtend und wachsam, wanderten einmal, zweimal, dreimal zu meinen Händen, meinen Schultern, meinem Gesicht. Sie studierte mich. Dann setzte sich das Tier zu meiner großen Verblüffung auf die Hinterbeine. Irgendwie kam mir der unpassende Gedanke, dass die Wölfin sich wie ein Mensch benahm, der sich bequem zurechtsetzt, um einem Musikstück zu lauschen. Ich unterdrückte ein Lachen. Vorsicht! Wilde Tiere können Lachen mit Angriffslust verwechseln. Und richtig: Die Wölfin versteifte sich, sträubte die Nackenhaare.
    »Es tut mir Leid«, sagte ich besänftigend. »Ich habe mich schlecht benommen. Es wird nicht wieder vorkommen. Jetzt hör zu! Ich mache Musik.«
    Langsam ließ ich den Bogen über die Saiten gleiten. Die »Partita« von Bach hatte eine Tonart, die dem Tier entsprechen könnte. Keine zu große Ausgangsgeschwindigkeit. Jede Note bestand aus einer sanften Anschwellung des Tons. Dabei bemühte ich mich um einen lockeren, singenden Klang. Die Tonerzeugung war vermutlich fehlerhaft, aber das spielte jetzt keine Rolle. Ich wusste, wie empfänglich die Ohren der Tiere für jede Schattierung der Resonanz und Klangfarbe waren. Und wahrhaftig, die Spielart schien der Wölfin zu gefallen. Sie rückte leicht näher, wobei der Kopf aufrecht blieb und die Ohren flach lagen. Aha. Sie bot Freundschaft an. Nach einer Weile ließ ich den Bogen behutsam sinken.
    »Das macht Spaß, nicht wahr?«
    Die Wölfin klopfte mit dem Schwanz auf den Schnee. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber immerhin wirkte die Bewegung freundlich. Als Antwort schlug ich mit dem Finger auf den Resonanzboden.
    »Wenn du gerne Musik hörst, komme ich wieder und spiele für dich«, sagte ich. »Und du kannst …« Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Die Wölfin stand plötzlich mit gesträubtem Nackenhaar auf den Beinen. Der Schwanz stellte sich hoch, die Ohren waren nach vorn gerichtet. Ein dumpfes Brummen, das einem das Blut zu Eis erstarrte, erschütterte ihre Rippen. Sie zog die Lefzen zurück und zeigte die Zähne. Doch ihre Alarmbereitschaft galt nicht mir, sondern zwei Männern, die mit Gewehren über den Weg kamen. Jäger!
    »Mach, dass du wegkommst«, flüsterte ich.
    Und als ob die Wölfin verstanden hatte,was ich sagte, wandte sie sich im selben Atemzug um, trabte den Hang abwärts. Fort war sie! Ich atmete auf, packte hastig meine Geige in den Kasten. Hoffentlich verwechselten mich die Männer nicht mit einem Tier! Und gleichzeitig wollte ich die Jäger in die andere Richtung locken, damit sie die Spuren der Wölfin nicht fanden. Also begann ich viel Lärm zu machen, sprach laut zu mir selbst und stapfte durch das Dickicht auf sie zu. Es waren Peter und Daniel Jobin, zwei junge Männer aus Beaver Creek, die ich kannte.
    »Habt ihr was geschossen?«, rief ich.
    »Hier!«
    Peter schwenkte einen Schneehasen, den er an den Ohren hielt. Ich blickte auf das weiße, blutbefleckte Fell und lächelte gezwungen.
    »Er ist groß.«
    »Ja, das gibt ein Braten!«
    Daniel deutete auf den Geigenkasten.
    »Was machst du denn hier? Musik?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich habe mein Gewehr darin versteckt!«
    Die Jungen lachten. Ich lachte mit ihnen. Wir schlenderten dem Dorf entgegen. Die Sonne ging unter, die kalte Luft stach in die Lungen. Sie würden heute nicht mehr jagen. Und morgen würden sie keine Zeit dazu haben: Sie arbeiteten beide in der Sägerei.
    In der Nacht schneite es. Ich war froh darüber. Der Neuschnee würde die Spuren der Wölfin verwischen. Das Erlebnis beschäftigte mich mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich hatte gehört, dass manche Tiere, Pferde, zum Beispiel, Sinn für Musik haben. Dass es auch bei Wölfen der Fall sein konnte, erfüllte mich mit Staunen. Ein unwiderstehlicher Drang trieb mich zu einer neuen Begegnung mit dem Tier. Ein Drang, den ich mir nicht zu erklären wusste.
    Ich wartete auf einen günstigen Tag, an dem wir eine Stunde früher aus der Schule kamen. Die Sonne zeigte sich jetzt täglich etwas länger. Während

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