Shanera (German Edition)
niemand hinterlässt je seine Spuren in diesem Schnee.“
„Ich muss sagen, diese Vorstellung gefällt mir gar nicht. Vielleicht hat es ja seinen Grund, dass niemand hier ist.“
Zela schaute sich beunruhigt um. „Warum sagst Du solche Sachen?“ Konnte Koras recht haben? War dies vielleicht ein Ort, der den Kintari nicht offen stand? Die Priester im Tempel sprachen durchaus davon, dass es Plätze gab, die den Göttern vorbehalten waren, wenngleich diese zumeist nicht näher bestimmt wurden.
Am vorigen Tag hatte sie oft über die Götter nachgedacht und ob sie mit diesem Ausflug nicht die Grenzen überschritt und die Gebote verletzte. Sie hatte sich immer bemüht, den Göttern eine gute Dienerin zu sein, aber sie war von Zweifeln nicht verschont geblieben.
Waren die vielen Gebote und Vorschriften wirklich der Weg zum spirituellen Aufstieg? Wie war es möglich, nach dem Willen der Götter zu leben, wenn es so schwierig war, auch nur ein kleines Zeichen von ihnen zu erhalten? Warum gab es immer so viele Interpretationsmöglichkeiten der religiösen Schriften und warum waren die Priester so sicher, die richtige Deutung zu kennen?
Sie hatte inzwischen das nagende Gefühl, dass es sich möglicherweise lohnen könnte, sich mit Shanera darüber zu unterhalten. Lange waren sie solchen Themen aus dem Weg gegangen, denn ihr letztes Gespräch über Religion und die Templer hatte in einer heftigen und unerfreulichen Diskussion geendet.
Stillschweigend hatten sie beschlossen, ihre verschiedenen Ansichten zu akzeptieren und ihre Freundschaft nicht mit fruchtlosem Streit zu gefährden. Aber vielleicht war dies ein Zeichen der Schwäche gewesen und sie hätten mehr davon gehabt, ihre jeweiligen Argumente zu überdenken, anstatt sie zu begraben.
+
Inzwischen war es schon deutlich nach Mittag und die Sonne nicht mehr zu sehen. Wolken bedeckten den größten Teil des Himmels und ein eisiger Wind strich die Hänge entlang und trieb hartgefrorene Schneekristalle vor sich her. Zum Knirschen ihrer Schritte auf der dünnen Schneeschicht gesellte sich jetzt das Heulen des Windes.
Bisher war noch nicht abzusehen, dass sich der Bergrücken irgendwann wieder nach Süden wenden würde. Links über ihnen konnten sie zur anderen Seite schroff abfallende Felskanten erahnen, die ihnen verrieten, dass sie hier nicht mehr zur Südseite wechseln konnten. Da es weit und breit keinen Schutz vor dem Wind gab, verzichteten sie auf längere Pausen und trotteten weiter voran.
Koras hatte zu Shanera aufgeschlossen und wandte sich an sie. „Bist Du sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind? Wir können in so einer Umgebung nicht lange überleben. Wenn Du unsicher bist, wäre es besser, uns rechtzeitig auf den Rückweg zu machen. Du weißt, dass Zela keine Jägerin ist und nicht so kräftig wie wir.“
„Ich bin mir sicher, dass es hier weitergeht. Einen anderen Weg zu unserem Ziel gibt es nicht. Zela schafft es schon.“
Koras wollte gerade etwas erwidern, als Shanera die Hand hob und Stille gebot. Sie blieb stehen, drehte den Kopf lauschend hin und her und blickte sich suchend um. Jetzt hörte es auch Koras: ein fauchendes Geräusch, das den inzwischen kräftigen Wind übertönte, zunächst nur wenig, dann langsam stärker werdend. Zela hatte sie eingeholt und blieb schwer atmend stehen, fragend zu ihren Begleitern blickend.
Koras zeigte wortlos zum nordöstlichen Horizont. Tief am grau bedeckten Himmel war ein dunkler Punkt zu sehen. Er bewegte sich rasch, zu schnell für einen Vogel. Wie gebannt starrten sie auf die Erscheinung. Schneller und schneller zog das Objekt sein Bahn, in Richtung Westen, wurde größer, bis mit scharfem Auge undeutlich eine kantige, lang gestreckte Form vor dem Hintergrund der drohenden Wolken zu erkennen war.
Es flog weit im Norden an ihnen vorbei und entfernte sich ebenso schnell wieder, wie es gekommen war, einen jetzt dunkleren Fauchton hinter sich herziehend, der aber bald im ewigen Geräusch des Windes unterging. Keine Spur mehr blieb von dem Phänomen.
Shanera starrte mit offenem Mund hinterher. Zela machte das Zeichen der Götter.
Koras runzelte die Stirn. Er war der erste, der seine Gedanken in Worte fasste. „Ich habe noch nie von so etwas gehört, und ich habe schon mit vielen Jägern Geschichten ausgetauscht.“ Er blickte noch einmal misstrauisch nach Westen, doch es war nichts mehr zu sehen. „Wisst Ihr, ob die Schriften etwas darüber sagen? Ich habe jedenfalls ein verdammt ungutes Gefühl
Weitere Kostenlose Bücher