Shanera (German Edition)
dabei.“
Zela zuckte mit den Schultern und schüttelte stumm den Kopf. Von so etwas hatte sie bestimmt noch nichts erfahren. Shanera kaute auf ihrer Unterlippe.
„Du hast recht, es ist beunruhigend.“, sagte sie. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir nur ein paar Tage vom Dorf entfernt auf etwas stoßen, von dem wir noch nie gehört haben. Vielleicht ist es etwas Neues, das es früher nicht gab. Es war jedenfalls nicht gerade klein, soweit ich das beurteilen kann. Ich glaube kaum, dass man es als unwichtig vernachlässigen würde.“
„Es war nicht nur groß, sondern auch verdammt schnell. Kein Vogel ist so schnell.“
„Das war ganz bestimmt kein Vogel.“, entgegnete Shanera besorgt. Das Objekt war ungefähr in Richtung ihres Zieles geflogen. War es klug, weiterzugehen? Es war zwar weit weg gewesen, aber bei einer solchen Geschwindigkeit relativierten sich die Entfernungen. Vielleicht konnte es sie in kurzer Zeit erreichen und in diesem Gelände waren sie völlig ohne Deckung. Sie wandte sich an Zela.
„Zela, ich denke diesen Gedanken nur ungern, aber … glaubst Du, das könnte ein Zeichen gewesen sein? Eine Warnung, dass wir nicht weitergehen sollen?“
Zela war auf so etwas nicht vorbereitet. Wollte Shanera es wirklich ihr überlassen, eine Antwort auf diese Frage zu geben? Eine Antwort, die einer Entscheidung über die Fortführung ihrer Expedition nahe kam, und das, nachdem sie nur gekommen war, um ihre Freundin zurückzuholen? Wollte Shanera etwa umkehren und suchte einen Vorwand?
Sie betrachtete ihr Gesicht, doch sie konnte kein Zeichen der Aufgabe darin finden. Nein, das war es nicht. Es war ein Vertrauensbeweis. Eine Bitte um ihre ehrliche Meinung in einem Bereich, in dem sie sich von allen am besten auskannte. Und wie war ihre Meinung? Was sagten die Lehren des Tempels? Vorsichtig versuchte sie, ihre Gedanken zu formulieren.
„Ich denke … für ein Zeichen ist es zu unklar. Ich meine, außer dass es irgendwie unheimlich ist, weil wir nicht wissen, was es ist … Immerhin hat es sich auf unser Ziel zubewegt. Bei Vögeln würde man das eher als ermutigend denn als abweisend auffassen. Also, auch wenn das kein Vogel war, ich kann jedenfalls nicht guten Gewissens behaupten, dass es ein negatives Zeichen ist.“
Sie blickte etwas unsicher zu Shanera. Diese nickte langsam.
„Also gut. Ich bin froh, dass Du das sagst. Allerdings gibt es noch eine zweite Möglichkeit, die uns vom Weitergehen abhalten könnte: Wenn das Ding nämlich kein Zeichen, sondern eine Bedrohung darstellt. Potenziell ist es jedenfalls durch seine Größe und seine Geschwindigkeit gefährlich.“
Koras schaltete sich ein. „Du hast zwar recht. Allerdings können wir in absehbarer Zeit so und so keine Deckung erreichen. Wenn Du richtig liegst mit diesem Weg, dann kommen wir wahrscheinlich vorwärts schneller aus diesem Tal hinaus, als wenn wir zurück gehen.“
„Was ist, wenn es uns schon gesehen hat? Manche Raubtiere haben sehr scharfe Augen.“
„Ja, aber ich glaube eigentlich überhaupt nicht, dass es ein Tier ist. Vielleicht ist es nur … ein fliegender Felsbrocken oder so etwas. Nichts Lebendiges. Ohne irgendwelche Absichten.“
„Die meisten Felsbrocken fliegen allerdings nicht von Osten nach Westen, sondern nur von oben nach unten.“
„Wer weiß, wie die Welt dort im Norden ist? Was hast Du denn für eine Erklärung?“
„Ich habe leider keine. Eigentlich hätte ich das Ding gerne von etwas näher gesehen.“ Nicht zu nahe, natürlich. Shanera war nicht scharf auf eine hautnahe Begegnung mit einem unbekannten und möglicherweise gefährlichen Objekt. Aber was es war, das wüsste sie schon gerne. Sie würde am Abend versuchen, eine Zeichnung davon zu machen.
„Jedenfalls bin ich dafür, dass wir vorerst weitergehen, solange wir nicht auf ein echtes Hindernis oder eine konkrete Gefahr stoßen.“
Koras und Zela nickten langsam und Koras machte ihr das Zeichen, wieder vorauszugehen. Bald trotteten sie hintereinander durch den Wind der eisigen Landschaft, jeder seinen eigenen, unruhigen Gedanken über die seltsame Begegnung nachhängend.
+
Es begann früh zu dämmern, und sie waren immer noch im Schnee. Shaneras Hoffnung, noch an diesem Tag wieder aus dem Tal herauszukommen, hatte sich als vergeblich herausgestellt und die Stimmung in der kleinen Gruppe war gedrückt. Zela musste inzwischen von Koras gestützt werden und es hatte keinen Sinn mehr, den Gewaltmarsch noch länger voranzutreiben.
Koras
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