Shanera (German Edition)
Aber daran wollte sie lieber nicht denken.
Sie war im letzten Herbst einmal dem Tod sehr nahe gekommen, als sie an einer engen Wegstelle auf einem losen Felsbrocken weggekippt und einige Schritte abgestürzt war. Erst im letzten Moment hatte sie sich festhalten können, über dem Abgrund baumelnd und verzweifelt mit den Füßen nach einem Halt suchend. In der kurzen Zeit, bis sie es geschafft hatte, die Füße wieder oberhalb des Überhangs zu bringen und auf den Weg zurückzuklettern, hatte die Todesangst sie nicht nur gepackt, sondern jeden Winkel ihres Gehirns vollkommen ausgefüllt. Nur ihre Instinkte hatten sie gerettet.
Seither glaubte sie nicht mehr daran, dass sie dem Tod ruhig entgegentreten konnte, wenn es einmal so weit war. Sie erschauderte und machte das Zeichen der Götter, eine waagrechte Handbewegung vor ihrem Gesicht.
Zela bemerkte es und sah nachdenklich zu ihr herüber, während sie auf ihrem Stück Fleisch herumkaute. Sie überlegte, ob sie Shanera vielleicht doch mit Hilfe ihres gemeinsamen Glaubens überzeugen konnte. Einfach würde das allerdings nicht werden. So wie es aussah, hatte sie aber noch ein bisschen Zeit. Vielleicht konnte sie das auch unter vier Augen mit ihr besprechen, ohne Koras.
Bis sie fertig gegessen und wieder gepackt hatten, war die Herde der Grasriesen nicht nur komplett auf die andere Seite gewandert, sondern hatte sich auch ein gutes Stück vom Fluss entfernt. Shanera war der Ansicht, dass der Übergang jetzt so sicher war, wie er werden konnte.
„Ich werde jetzt aufbrechen und den Fluss überqueren. Und was werdet Ihr tun? Es würde mich freuen, wenn Ihr mich noch ein paar Tage begleitet.“
Zela hatte inzwischen genug Zeit zum Nachdenken gehabt und antwortete. „Tja, was sollen wir schon machen? Wenn wir jetzt zurück gehen, haben wir gar nichts erreicht. Falls es Dir nichts ausmacht, dass ich weiterhin versuchen werde, Dich zur Umkehr zu bewegen … Ich denke, wir werden mitkommen, bis zu diesem Berg oder bis sich herausstellt, dass das Ganze Unsinn ist. Bist Du damit einverstanden, Koras?“
„Mir ist es recht. Auf die paar Tage kommt es nicht an und ich denke, das könnte recht interessant werden. Außerdem, allein mit zwei gut aussehenden netten Mädchen, wer könnte da widerstehen?“
„Pass nur auf Du, sonst wirst Du erleben, wie nicht nett wir sein können.“
„Ja, Du solltest gleich mal zum Fluss vorausgehen, um Dich etwas abzukühlen.“, pflichtete Shanera ihrer Freundin bei.
„Pfh. Ihr werdet Eure Meinung schon noch ändern.“
„Ist der immer so frech, Zela?“
„Und wie.“
„Heh!“
+
Die Flussüberquerung erwies sich als ein nicht allzu schwieriges, aber sehr nasses und kaltes Unterfangen. Bei dem ständig wehenden, jetzt am Nachmittag schon recht kühlen Wind war es nicht ratsam, die gesamte Kleidung zu durchnässen. Sie zogen sich aus bis auf die Unterkleidung, packten ihre Kleider zusammen mit dem Rest ihrer Ausrüstung zu großen Bündeln und balancierten diese auf dem Kopf. Zähneklappernd wateten sie über den steinigen Grund und durch die an ihren Beinen zerrende Strömung des Flusses.
Auf der anderen Seite rieben sie sich trocken und warm und schlüpften wieder in ihre Sachen. Während Zela und Shanera sich gegenseitig beim Abtrocknen halfen, musste Koras selber schauen, wie er zurechtkam. Als er ein paarmal versuchte, in Richtung seiner Begleiterinnen zu spähen, warf Shanera einen Kiesel nach ihm. Daraufhin entfernte er sich vorsichtshalber etwas weiter, sich die Schulter reibend und leise etwas vor sich hin murmelnd.
„Ich hoffe, er hat Dich bisher nicht belästigt.“, sagte Shanera leise zu Zela, während sie in ihre Kleider schlüpfte.
„Nein, überhaupt nicht. Eigentlich ist er ein netter Kerl. Wahrscheinlich denkt er nur, er müsse jetzt, wo er zwei Frauen um sich hat, ein wenig den starken Mann spielen.“
„Aha. Na ja, das werde ich ihm schon austreiben, wenn es sein muss. Und Du? Hast Du vielleicht ihn belästigt, hm?“
Zela schluckte. „Wie kommst Du denn darauf. Das ist ja wohl eine Frechheit.“
„Steht Dir gut, wenn Du rot wirst, wusstest Du das? Aber … Hey!“ Shanera musste sich ducken, als Zela mit einem nassen Kleidungsstück in ihre Richtung schlug. „Also gut, ich bin ja schon ruhig.“
+
An diesem Nachmittag kamen sie rasch voran. Es ging weiter Richtung Nordwesten, durch die Grasebene hindurch auf die ersten Hügel und kleineren Berge des Nordens zu, über deren Gipfeln schwere
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