Shanera (German Edition)
Abzweigung, die er fand, wollte er nicht ununtersucht lassen. Neugierig trat er ein, durch einen kleineren Bereich, wohl eine Art Vorkammer, in einen größeren, unregelmäßig geformten Raum. Schräg über ihm an der Decke war eine größere Öffnung, durch die Licht einfiel.
Früher musste es einmal eine Abdeckung gegeben haben, die Schutz gegen Regen bieten konnte. Jetzt stand alles offen und im Raum herrschte das gleiche Chaos aus Schutt, Dreck und Trümmern wie überall. Einige Gegenstände waren allerdings noch zu erkennen, Koras bemerkte eine Art Tisch oder zumindest eine Arbeitsplatte und etwas, was ein Schlaflager gewesen sein konnte.
Er arbeitete sich zu dem Tisch vor. Einige Schichten völlig verrottetes Pergament lagen dort, aber er konnte nicht sagen, was einmal darauf gestanden hatte, und die Fetzen zerfielen unter seinen Fingern. Daneben lag ein dünnes, rundes Holzteil mit einer dunklen Spitze. Ihm kam der Gedanke, es könnte sich vielleicht um ein Schreibgerät handeln, und tatsächlich, als er damit auf der Tischoberfläche herumkritzelte, blieb eine dünne dunkle Spur zurück.
Erfreut über seine richtige Vermutung steckte er das Ding ein und wollte gerade einige unter dem Tisch liegende Gegenstände näher in Augenschein nehmen, als ihn ein entfernter Schreckensschrei aufschreckte. Shanera! Fluchend sprang er auf, stieß sich beinahe den Kopf, stolperte über die Schutthaufen zum Ausgang und rannte den Gang hinunter, an dessen Ende er die anderen vermutete.
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Shanera war einen Schritt zu weit gegangen. Der Gang endete tatsächlich im Freien, allerdings nicht ebenerdig, sondern das letzte Stück hing frei in der Luft über einem Felsabsturz, der den früheren Ausgang wohl schon vor längerer Zeit weggerissen hatte. Es ging sicher zwanzig oder mehr Schritt steil in die Tiefe, unten war Wald.
In dem Versuch, zu erkunden, ob sie trotzdem irgendwie ins Freie klettern konnte, hatte sich Shanera bis ganz ans Ende der Röhre vorgewagt und dort war es passiert. Der Boden brach unter ihren Füßen weg, sie schrie auf, rutschte nach unten und schaffte es gerade noch, sich mit den Händen an einigen noch nicht ganz abgerissenen Bodenteilen festzuhalten.
Ihre Unterarme und Hände waren aufgerissen und brannten wie Feuer, mit den Füßen baumelte sie über dem Abgrund und versuchte voller Panik, irgendwo Halt zu finden. Sie konnte sehen und hören, dass der Boden weiter einbrach und sie nicht mehr lange tragen konnte. Einige Schritte weiter hinten stand Zela mit angstgeweiteten Augen und wich langsam zurück.
„Zela! Zieh mich hoch! Ich kann mich nicht halten!“
„Ich kann nicht! Es wird alles einstürzen!“
Wie zur Bestätigung brachen einige Brocken aus den schwer angegriffenen Seitenwänden und stürzten in die Tiefe.
„Zela! Du musst mir helfen! Leg Dich auf den Boden und gib mir Deine Hand!“
Doch Zela schüttelte stumm den Kopf. Voller Angst und unfähig zu handeln, ging sie Schritt für Schritt immer weiter zurück. Im Boden bildeten sich Risse und jetzt stürzte ein Stück der Decke ein. Trümmerteile regneten nach unten, einige trafen Shanera. Der Boden senkte sich weiter. Verzweifelt versuchte sie sich hochzuziehen, doch sie konnte keinen Halt finden.
„Zela! Koras! Helft mir!!“ In diesen letzten Augenblicken kam die Erinnerung an ihr erstes Grenzerlebnis mit dem Tod wieder hoch. Dann brach der Stein unter ihren Händen weg und wie in einem Albtraum schien sie einen Moment lang in der Luft zu schweben, bevor sie zu fallen begann und Zelas entsetztes Gesicht aus ihrem Blickfeld verschwand. Einige übelkeiterregende Augenblicke und gleichzeitig eine Ewigkeit lang war sie im freien Fall.
Dann prallte sie hart auf die schräge Wand aus Erde und Gestein, schürfte daran entlang, überschlug sich mehrmals. Wieder verlor sie den Kontakt zum Boden, dann brach sie durch Blätter und Zweige, Buschwerk, verrottete Pflanzen und rollte den steil abfallenden Waldboden entlang.
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Als Koras die letzte Biegung vor dem Ende des Ganges erreicht hatte, erblickte er nur Zela, die zitternd auf das abgebrochene Ende starrte. Als sie ihn hörte, schreckte sie auf und schaute, zu ihm zurück, Panik in den Augen.
„Was ist passiert? Wo ist Shanera?“, herrschte er sie an, als sie keine Erklärung anbot.
„Sie ist gestürzt … Ich konnte ihr nicht helfen … Ich konnte nichts tun!“ Flehentlich und verzweifelt sah sie ihn an, ihre Hände zitterten unkontrolliert. Dann rannte sie plötzlich los,
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