Shanera (German Edition)
erkannte sie allerdings, dass Färbung und Muster des Waldes vor ihr anders aussahen als dort, woher sie gekommen war. Es war schwierig, die Grenzen dieses Gebiets auszumachen, doch hatte es den Anschein, als ob es nicht leicht zu umgehen sein würde. Es schien bis nahe an den Fluss heranzureichen, von dem sie inzwischen ziemlich weit entfernt war. Auf der anderen Seite erstreckte es sich tief in den Wald ohne erkennbares Ende.
Zum Fluss zurück wollte sie nicht, denn es würde nicht wenig Zeit kosten und sie fürchtete eine Entdeckung und Gefangennahme, wie sie ihren Freunden widerfahren war. Also blieb nur der Weg, den Abgrund irgendwie zu überqueren oder zu durchklettern. Seine Breite konnte sie nicht ausmachen. Auf der Karte schien der Wald relativ schnell wieder seine normale Färbung anzunehmen, aber das konnte auch täuschen. Sehr vernünftig erschien es nicht, ohne genauere Vorstellung der Gegebenheiten in den Bäumen herumzuklettern.
Sie starrte ratlos in die Tiefe. Es schien ihr, als ob dort unten, wo sie eigentlich Dunkelheit erwartet hätte, es tatsächlich eher heller wurde. Ein bläuliches Schimmern drang herauf, wie sie es inzwischen schon mehrmals gesehen hatte.
Das Geräusch eines zurückschnellenden Asts ließ sie auffahren und aus dem Augenwinkel sah ein mittelgroßes, vierbeiniges Tier. Es segelte mit weit gestreckten Gliedmaßen vom nächsten Baum aus ein Stück durch die Luft und landete auf einem aus der Schlucht ragenden Ast, der heftig zu schwanken anfing. Das Tier entblößte ein paar scharfe, allerdings nicht allzu lange Zähne in ihre Richtung, bevor es auf flinken und krallenbewehrten Pfoten den Ast entlang abwärts turnte und verschwunden war. Kurz darauf setzten einige Vogelstimmen zum Konzert ein, die sich offenbar vorher von dem Räuber gestört gefühlt hatten.
Shanera beschloss, eine Weile am Rand der Schlucht entlang zu gehen, zumindest so weit dies möglich war, und die Entscheidung aufzuschieben, in der vagen Hoffnung, noch irgendetwas Hilfreiches in Erfahrung zu bringen. Sie wählte die Richtung zum Fluss hin und schlängelte sich durchs Dickicht der Äste. Es war ein mühsames Vorankommen. Zumindest so lange, bis sie unter sich am Rande der Schlucht so etwas wie ein Sims aus miteinander verflochtenen Wurzeln und Lianen entdeckte, welches sich über eine längere Strecke auszudehnen schien.
Vorsichtig kletterte sie das Stück hinunter und wanderte auf dem etwa schulterbreiten Sims weiter. Das ging recht gut, und nach kurzer Zeit fasste sie den Verdacht, dass es sich um so etwas wie einen Weg handeln musste. Aber wer hatte ihn angelegt? Sie war noch nicht weit gekommen, als sich der Pfad sehr schmal zwischen einer größeren Gruppe wuchtiger Baumstämme und lianenbehangener Äste hindurchschlängelte, wobei er einiges an Höhe verlor.
Als sie auf der anderen Seite wieder aus dem dunklen Geäst herauskam, bot sich ihr ein erstaunlicher Anblick. Dicke Trauben von kleinen blau strahlenden Leuchtkügelchen hatten sich an der Schluchtwand in Nischen zwischen Erde und Wurzeln festgesetzt und verbreiteten ein unwirkliches, geisterhaftes Licht. Die so von unten beleuchteten Bäume über ihr und um sie herum erschienen wie eine weite, zerklüftete Höhle.
Kleine Vögel und Insekten schwirrten durch die Luft, einige von ihnen schienen ebenfalls zu leuchten. Auf einer senkrecht herabhängenden Liane hatte sich eine Kletterpflanze angesiedelt, mit den schönsten weißen Blüten, die sie jemals gesehen hatte. Begleitet wurde alles vom Zirpen der Grillen, dem dunklen Tuten einiger Vögel und dem Rauschen und Rascheln der Blätter und unzähligen Tiere des Waldes.
Shanera blieb stehen, ließ den Anblick auf sich wirken und schaute sich um. Der immer noch aus Baumwurzeln gebildete Pfad bog, nur ein kleines Stück weiter, nach rechts auf eine schmale Brücke aus Wurzelenden und Ästen ab. Diese überspannte den Abgrund bis zu einer Gruppe aus langgereckten Baumstämmen und Schlingpflanzen, die sich säulenartig nach oben und unten erstreckten, ohne erkennbares Ende. Auf einigen Ästen abgestützt schlängelte sich der Weg darum herum, weiter konnte sie nicht sehen.
Sie balancierte über die Brücke, umrundete die Baumgruppe und folgte dann einer langen Reihe von treppenartigen Stufen aus Baumwurzeln tiefer in die Schlucht hinein. Es war wie das Eintauchen in eine andere Welt, die ihr wie ein Gegenstück zu ihrer Heimat, der Großen Wand, vorkam. Während jene sich, Wind und Wetter
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