Shanera (German Edition)
andererseits konnte sie diese Vorsichtsmaßnahme auch verstehen. Also deponierte sie das Stück mit seinem wertvollen Inhalt in einer hochgelegenen Baumnische nicht weit vom Portal, nachdem sie es gut verschnürt hatte. Sie hoffte, dass die Waldbewohner es nicht oder zumindest nicht sofort öffnen würden.
Das Innere der Höhle entpuppte sich als ein Labyrinth aus Gängen und Räumen, das den Eindruck machte, ein ganzes Dorf beherbergen zu können. Überall war Wurzelwerk zu sehen, schimmernd beleuchtet vom allgegenwärtigen bläulichen Licht. Boden und Wände waren vielfach mit Decken und Teppichen verkleidet. Ihre Führerin geleitete sie an einigen Räumlichkeiten vorbei tiefer ins Innere des Bauwerks. In einem Bereich saßen einige kichernde Kinder, die große Augen machten, als sie vorbei kamen; offenbar eine Art Schule.
Nach kurzer Zeit hatten sie den noch leeren Versammlungsraum erreicht. Ein junges Mädchen wartete darin. Es verneigte sich vor ihnen und lief dann hinaus. Wenig später waren die vier Waldleute eingetroffen und hatten sich auf den Ratssitzen niedergelassen. Zwei Wächter hielten sich im Hintergrund.
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Gira’ba’sam hatte ihren Bericht beendet und trat einige Schritte zurück, etwas erleichtert wirkend, wie es Shanera vorkam. Alle Blicke richteten sich jetzt, abschätzend, vielleicht auch misstrauisch, auf Shanera. Bevor sie aber entschieden hatte, was sie sagen oder tun sollte, ergriff das älteste Ratsmitglied das Wort – ein weißhaariger Mann, dem ein erfahrungsreiches Leben anzusehen war.
„Unsere Wächterin sagt mir, Du bist … Djaneera. Und Du bist gekommen … von der Großen Wand?“
Shanera fiel ein Stein vom Herzen. Sie verbeugte sich leicht vor dem Sprecher.
„Ja, das stimmt. Mein Name ist Shanera. Meine Heimat ist die Große Wand. Ich komme in friedlicher Absicht. Und ich freue mich, dass Du meine Sprache sprichst.“
Der alte Mann sah sie forschend an, bevor er etwas zu den anderen sagte. Wahrscheinlich übersetzte er ihre Worte.
„Wir begrüßen Dich, Djaneera. Wir sind Wanesh, das Volk des Waldes.“
Shanera nickte, doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort.
„Bitte sag uns, warum … Du gekommen bist. Hierher.“
Shanera holte tief Luft und lächelte freundlich.
„Ich werde gerne Eure Fragen beantworten. Aber ich würde gerne auch wissen, wie Ihr heißt? Wie ist Euer Name?“
Der Alte schien ein wenig überrascht. Er musterte sie noch genauer als zuvor. Die anderen Ratsmitglieder überließen ihm vorerst die Führung. Als es Shanera unbehaglich zumute zu werden begann, lächelte er verschmitzt.
„So soll es sein.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an. „Mein Name ist Arab’as’rama’ba’kaarin’sa.“
Shanera riss die Augen auf.
„Möchtest Du die Namen von … allen wissen?“ Er deutete in die Runde.
Sie räusperte sich verlegen. „Äh, danke. Etwas später, danke.“
Er sah sie erwartungsvoll an.
„Äh … ach so, ja. Warum ich gekommen bin.“ Sie versuchte, wieder Fuß zu fassen. „Ich bin mit zwei Freunden von der Großen Wand gekommen. Mein Ziel – unser Ziel – war es, diese Welt zu entdecken, sie zu erforschen. Wir wussten nicht, was sich hier befindet und wer hier lebt.“
Der alte Mann, von dessen Namen sie sich nur Arab gemerkt hatte, übersetzte wieder für die anderen. Bei der ebenfalls recht betagten Frau neben ihm erntete er damit Stirnrunzeln, während die beiden jüngeren Ratsmitglieder die Information ohne sichtliche Regung aufnahmen. Arab wandte sich wieder seinem Gast zu.
„Du willst also … forschen. Das ist neu … ungewöhnlich für jemanden … von der Großen Wand.“
Offenbar waren ihm die Wege ihres Volkes nicht unbekannt.
„Neu, ja. Ihr scheint die Kintari zu kennen. Doch nicht alle sind so verschlossen, wie Ihr denkt. Wir denken, es ist Zeit, neue Bekanntschaften zu machen.“
„Es ist gut, dass Du so denkst. Auch wenn ich nicht glaube, dass … die anderen … Kintari so denken.“
Während Shanera noch überlegte, was sie sagen sollte, fragte er weiter.
„Wo sind Deine zwei Freunde? Du sagst, sie kommen mit Dir.“
„Wir wurden getrennt. Wir fuhren auf dem Fluss, mit einem Floß, einem Boot.“ Sie gestikulierte, um sich verständlich zu machen. „Ich war an Land, als wir von den anderen Booten überrascht wurden.“ Sie schilderte kurz ihr Zusammentreffen mit den Flussleuten. „Ich wollte ihnen folgen, und um den Weg abzukürzen, bin ich durch den Wald gelaufen.“
Shanera wusste
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