Shanera (German Edition)
frühen Morgendämmerung. Sie liebten sich noch einmal, und Shanera wäre am liebsten für immer an Ort und Stelle geblieben und hätte alles andere vergessen.
Doch sie wusste, genau wie die Wanesh, dass sie ihre Freunde nicht im Stich lassen konnte und ihr die Zeit davon lief. Nach einem letzten, langen Kuss schlüpften sie schweren Herzens wieder in die Gewänder und schlichen sich im etwas kühleren Morgennebel ins Dorf zurück.
Shanera durchlebte den Beginn des Tages wie in einem Traum. Sie konnte kaum glauben, was in der Nacht passiert war. Und doch war es real gewesen. Sie musste damit klar kommen, und das schnell, denn sie hatte keine Zeit, zu verweilen oder zu grübeln.
Ein kurzes Bad, zurück in die alten Kleider, die Verabschiedung von Arab, die Führung zum Dorfeingang, das Aufnehmen ihrer Sachen, die immer noch dort lagerten, und der Weg mit ihrer Führerin durch die Schlucht nach oben.
Der Abschied von den Wanesh ging viel zu schnell, und bevor sie dafür bereit war, stand sie mit Gira am jenseitigen Ausgang der Schlucht und musste ihrer Trennung ins Auge sehen. Sie hatte einen schwierigen Weg vor sich. Ob es ihr gelingen würde, ihre Freunde zu befreien und dann noch zu den Waldleuten zurückzukehren, stand in den Sternen.
„Gira“, flüsterte Shanera und sah sie mit einem sehnsüchtigen Blick an. Die dunkle Schönheit schien sich nichts anmerken lassen zu wollen, doch spürte man, dass ihr das Ganze alles andere als gleichgültig war.
„Sha“, flüsterte sie zurück und grinste ein wenig. Auch Shanera musste fast lachen, obwohl ihr zum Heulen zumute war. Sie umarmten sich lange. „Ich komme zurück, das verspreche ich Dir.“ murmelte Shanera ihrer Freundin ins Ohr.
Als sie sich endlich lösten, drückte ihr Gira etwas in die Hand. Ein kleines, rund geschliffenes Holzstück, kaum handtellergroß. In seiner Mitte war, leicht versenkt und gut geschützt, eines der blauen Kügelchen eingebettet, das jetzt im durch die Bäume gedämpften Tageslicht nur schwach schimmerte. Gira deutete in den Himmel und dann auf die Kugel. „Son… Sonne“, sagte sie. Vielleicht konnte man es durch Sonnenlicht aufladen und dann nachts als Leuchte benutzen.
„Danke“, sagte Shanera mit einem Kloß in der Kehle und nickte. Auch Gira nickte. Shanera meinte, Feuchtigkeit in ihren Augen zu entdecken, doch dann schenkte die Wanesh ihr ein letztes strahlendes Lächeln, drehte sich um und war gleich darauf zwischen den Bäumen verschwunden.
Die Kintari starrte ihr lange hinterher, doch sie tauchte nicht mehr auf. Als sie das geschenkte Leuchtholz wegpackte, bemerkte sie, dass auf der Rückseite Zeichen eingraviert waren. Lesen konnte sie sie nicht und es blieb jetzt keine Zeit, sie näher zu studieren.
Sie verschnürte ihr Gepäck, schulterte es, und machte sich auf den Weg.
+
Einen Sandlauf später trat ihr der Schweiß aus allen Poren, obwohl es noch früh am Vormittag war. Der Dschungel war hier dichter als auf der anderen Seite des Schluchtwaldes und sie musste sich mühsam voran kämpfen. Immer wieder warf sie einen Blick auf die Karte, um sich zu vergewissern, dass sie noch in die richtige Richtung ging.
Als sie dies ungefähr zum hundertsten Mal getan hatte – zumindest fühlte es sich so an – schien es ihr beim Hochblicken, als huschten einige große Schatten über ihren Kopf hinweg. Rasch steckte sie die Schriftrolle weg. Misstrauisch äugte sie in das Dickicht der Blätter und Ranken, während sie sich vergewisserte, dass Messer und Pfeilwaffe griffbereit waren. Ein Rascheln hinter ihr ließ sie zusammenfahren, doch es war nichts zu sehen. Sie musste an Windbote denken, doch der Schatten war zu groß gewesen.
Während sie vorsichtig weiterging, kreisten unangenehme Gedanken durch ihren Kopf, die sich um die aggressiven Flugwesen in der Totenstadt und mögliche Verwandte oder andere Raubtiere im Dschungel drehten. Eigentlich hatte sie bisher großes Glück gehabt, hier auf nichts wirklich Gefährliches gestoßen zu sein.
Die Schatten über ihrem Kopf schienen nach und nach ein Eigenleben zu entwickeln und sie bekam das Gefühl, ungebetene Begleiter zu haben. Es war zwar nichts konkretes zu sehen oder zu hören, aber sie fühlte sich nicht mehr sicher. Sie versuchte sich einzureden, ruhig zu bleiben. Hätten die Wanesh sie nicht gewarnt, wenn es hier gefährliche Waldbewohner gab, seien es Tiere oder sonst etwas? Vor dem Flussvolk war sie auch gewarnt worden – allerdings hatte sie diese Warnung
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