Shanera (German Edition)
nicht mehr nötig gehabt.
Gira hätte vielleicht gewusst, was es war. Shanera seufzte. Sie wusste nicht einmal, ob sie sich zur Närrin machte. Vermisste Gira sie? Genauso wie umgekehrt? Oder betrachtete sie ihre Begegnung als nettes Zwischenspiel? Sie glaubte es nicht, aber ihr fehlte die Erfahrung.
Hätte sie versuchen sollen, sie mitzunehmen? Nein, sie durfte sie nicht in ihre Probleme hineinziehen. Das Verhältnis zwischen den Wanesh und dem Flussvolk war offenbar gespannt und sie hätte sich vermutlich nur noch mehr Ärger eingehandelt. Was mochte ihre dunkelhäutige Freundin wohl jetzt tun? Stand sie wieder Wache oder war das normalerweise gar nicht ihre Aufgabe? Sie wusste fast nichts über sie.
Eine Baumwurzel riss sie unsanft aus ihren Gedanken. Shanera konnte sich gerade noch an einem Ast festhalten, um einen Sturz zu verhindern. Einen Fluch murmelnd, versuchte sie, sich besser auf den Weg zu konzentrieren. Ein Marsch durch den Dschungel war schließlich kein Spaziergang und sie musste nicht nur die Augen offen, sondern auch den Kopf klar behalten. Wollte sie etwa wie ein liebeskranker Tölpel durch die Gegend stolpern?
Vermutlich wäre eine Rast angebracht, entschied sie wenig später, als ein schmales Rinnsal ihren Weg kreuzte. Sie verfolgte es bis zu einer Stelle, wo es über einen Vorsprung in einen kleinen Tümpel plätscherte. Dort ließ sie sich auf einer Wurzel nieder, kramte ihre bescheidenen Essensvorräte heraus und trank etwas. Doch der Appetit wollte sich nicht einstellen. Niedergeschlagen ließ sie sich gegen den Baum in ihrem Rücken sinken und starrte ins Leere.
Nicht einmal ihre Schriftrollen hatte sie dabei. Das Niederschreiben oder Zeichnen half ihr oft, ihre Gedanken zu sortieren.
„Liebe Schriftrollen …“, murmelte sie. „Wo auch immer ihr jetzt seid. Gestern … habe ich die unglaublichste Person kennen gelernt. Gira’ba’sam von den Wanesh. … Wie soll ich es beschreiben? Ich wusste nicht, dass es so sein kann. Aber heute habe ich sie schon wieder verloren. Ich werde natürlich versuchen, zu ihr zurückzukehren. Doch zuerst muss ich Zela und Koras finden, und ich weiß nicht, wohin das führt. Sie wurden gefangen genommen, und ich bin allein.“
Allein. Sie nahm das Holzstück, das Gira ihr gegeben hatte, und streichelte es sanft. Versuchsweise hielt sie es in einen Sonnenstrahl, der seinen Weg zwischen den Blättern und Ranken zum Boden gefunden hatte. Nach einiger Zeit wurde die blaue Kugel matt und dunkel. Vielleicht saugte sie das Licht auf? Shanera nahm das Holz aus der Sonne und verbarg es im Schatten ihrer Hände, so dass nur ein kleiner Spalt offen blieb, durch den sie hinein lugen konnte. Und tatsächlich, es dauerte nicht allzu lange, bis das Kügelchen schwach zu schimmern begann.
Auf der Rückseite des Holzes war neben den gravierten Zeichen noch eine Art Öse eingearbeitet, ebenfalls sorgfältig abgerundet und glatt geschliffen. Sie befestigte das Leuchtholz daran oben auf ihrem Bündel, so dass es während ihrer weiteren Wanderung etwas Licht abbekommen konnte. „Son… Sonne“, wie Gira gesagt hatte.
Sie seufzte erneut und musste dann über sich selbst lachen.
„Mich hat’s wirklich schwer erwischt. Kann ich jetzt vielleicht mal für eine kleine Weile aufhören, an sie zu denken? Und mich auf meine Aufgabe konzentrieren?“, fragte sie einen rot gepunkteten kleinen Käfer, der auf der nächsten Baumwurzel saß.
Der fühlte sich allerdings nicht angesprochen und krabbelte davon. „Hey! Ich rede mit Dir.“
Sie verschränkte die Arme über den angezogenen Knien. Als sie die schon etwas verblassten Punkte auf ihren Unterarmen anstarrte, sah sie die geschickten Finger vor sich und Giras schelmischen Blick beim Ritual der Bemalung.
„Offenbar nicht. Es hat keinen Sinn mit mir.“ Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht aus lauter Unaufmerksamkeit in irgendein Loch fiel, bevor es ihr gelang, diese Phase zu überwinden. Und das konnte noch ziemlich lange dauern, wenn sie an das Verhalten einiger ihrer Mitbewohnerinnen aus der Gemeinschaftshütte dachte.
Damals hatte sie sich darüber lustig gemacht – so änderten sich die Zeiten. Wie auch immer, sie musste weiter. Sie packte alles zusammen und raffte sich auf, mit erheblich weniger Elan, als ihr selbst lieb war.
Ein Blick nach vorn beschleunigte jedoch ihren Puls erheblich und ließ sie erstarren. Nicht mal ein dutzend Schritte entfernt von ihr klammerte sich ein bizarres Wesen an einen Baumstamm.
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