Shannara I
unterirdischen Zellen, und der Zugang war gut verborgen. Die drei niedergeschlagenen Gefangenen beobachteten dumpf, wie die Wachen Brot und Wasser in die Zelle brachten, eine Fackel zurückließen und wieder hinausgingen. Stenmin hielt dieses letzte Licht mit grimmigem Lächeln hoch, während er darauf wartete, daß der gebückt dastehende Palance den Raum verließ. Aber Palance zögerte unentschlossen, offenbar unfähig, den Blick vom stolzen, resignierten Gesicht seines Bruders abzuwenden; der flackernde Lichtschein warf rote Streifen auf die Züge Balinors und auf die tiefe Narbe an seiner Wange. Die Brüder standen einander lange Zeit stumm gegenüber, dann kam Palance mit schleppenden Schritten auf Balinor zu. Er schüttelte Stenmins Hand ab, die ihn zurückhalten wollte. Er blieb nah vor seinem Bruder stehen und starrte in seine Augen, hob unsicher die Hand und legte sie schließlich auf Balinors Schulter.
»Ich will… wissen«, flüsterte er. »Ich will begreifen… Du mußt mir helfen…«
Balinor nickte stumm und legte seine Hand auf die von Palance. Einen Augenblick lang blieben sie verbunden, als seien die Bande von Freundschaft und Liebe zwischen ihnen nicht zerschnitten. Dann wandte Palance sich ab und verließ mit schnellen Schritten die Zelle, gefolgt von dem beunruhigten Stenmin. Die schwere Tür schloß sich, die Riegel wurden vorgeschoben, und die drei Freunde waren wieder in der undurchdringlichen Dunkelheit eingeschlossen. Die Schritte im Korridor verklangen. Wieder begann das Warten, aber diesmal schien jede Hoffnung auf einen guten Ausgang unwiederbringlich dahin zu sein.
Eine Gestalt löste sich aus der Schwärze der nachtumschatteten Bäume im verlassenen Park unter dem hohen Bogen und hetzte lautlos auf den Palast der Buckhannahs zu. Mit schnellen, sicheren Sprüngen erreichte sie den Garten, setzte über niedrige Hecken und Sträucher hinweg, wand sich zwischen den majestätischen Ulmen hindurch und suchte die Mauer nach der nächtlichen Wache ab. In der Nähe des schmiedeeisernen Tores, wo die Brücke endete, schritten einige Wachtposten auf und ab. Ihre Falkenabzeichen waren im Fackellicht erkennbar. Die dunkle Gestalt stieg die Böschung zu den mit Moos und Efeu überzogenen Mauern hinauf und verschwand in den Schatten.
Lange Augenblicke blieb sie völlig unsichtbar, als sie vom Haupttor und dem schwachen Fackelschein davonschlich. Dann tauchte der Eindringling wieder auf, ein undeutlicher Fleck vor der vom Mond schwach erhellten Westmauer. Starke Arme klammerten sich an den dicken Ranken fest und zogen die stämmige Gestalt zur Mauerkrone hinauf. Der Kopf wurde vorsichtig gehoben, die scharfen Augen blickten hinab in den leeren Palastgarten, um sich zu vergewissern, daß keine Wachen in der Nähe waren. Der Eindringling sprang hinüber und landete lautlos auf dem Boden.
Halb geduckt hetzte die geheimnisvolle Gestalt zum schützenden Schatten einer großen Weide. Der Eindringling blieb schweratmend stehen, als er Stimmen näherkommen hörte. Er lauschte einige Augenblicke aufmerksam, entschied aber, daß es sich nur um das beiläufige Geplauder einiger Palastwachen handelte, die ihre Runde machten. Er wartete zuversichtlich, so an den Stamm gepreßt, daß er aus mehr als einem Meter Entfernung schon völlig unsichtbar war. Die Wachen tauchten Sekunden später auf und unterhielten sich unbesorgt miteinander, schritten durch den stillen Garten und verschwanden. Der Unbekannte rastete noch einige Minuten und betrachtete den dunklen Umriß des Palastes. Ein paar beleuchtete Fenster unterbrachen die neblige Dunkelheit des massiven Bauwerks und warfen breite Lichtstreifen in das verlassene Gelände. Ganz schwach und undeutlich waren aus dem Inneren Stimmen zu vernehmen.
Der Eindringling lief blitzschnell zu den Schatten des Gebäudes und blieb unter einem kleinen, dunklen Fenster in einer Nische stehen. Seine starken Hände machten sich fieberhaft an dem alten Riegel zu schaffen und lockerten die Befestigung. Der Riegel brach endlich mit einem trockenen Krachen, und das Fenster schwang lautlos auf. Ohne zu warten, ob die Wachen das Geräusch gehört hatten, schlüpfte der Eindringling hinein. Als das Fenster sich hinter ihm schloß, erfaßte das Mondlicht für einen Augenblick das breite, entschlossene Gesicht Höndels.
Stenmin hatte sich in einer Beziehung verrechnet, als er dafür gesorgt hatte, daß Balinor und Eventines Vettern eingesperrt wurden. Sein ursprünglicher Plan war
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