Shannara V
Vorsichtig folgte er einer Gasse, bis sie in eine Straße einmündete. Noch immer im Schatten der Gasse spähte er hinaus. Links verlief die Straße in der Finsternis zwischen zwei Reihen glatt und abweisend in den Himmel ragender Häuser entlang. Zur Rechten gabelte sich die Straße und führte zu zwei turmhohen Gebäuden mit weitläufigen, dunklen Vorhallen, die in völliger Finsternis untergingen.
Pe Ell suchte die Straße in beiden Richtungen ab, lauschte wieder und begann zu kochen. Wie konnte er ihn so plötzlich verlieren? Wie konnte das Biest so einfach verschwinden?
Ihm wurde bewußt, daß die Luft sich aufhellte, daß die Sonne bald in die Welt hinter den Wolken, dem Nebel und der Düsterkeit von Eldwist tauchen würde. Der Tag brach an. Der Kratzer würde sich jetzt verstecken. Vielleicht hatte er es schon getan. Pe Ell runzelte die Stirn und spähte in die undurchdringlichen Schatten des Hauses auf der anderen Straßenseite. War dort wohl sein Unterschlupf?
Er wollte gerade sein eigenes Versteck verlassen, als sein Instinkt, dem er so uneingeschränkt traute, ihn warnte. Der Kratzer versteckte sich wirklich, aber nicht aus dem Grund, den er zunächst angenommen hatte. Er versteckte sich, um eine Falle aufzustellen. Er wußte, daß die Eindringlinge noch immer in der Stadt frei herumliefen, irgendwo in der Nähe. Er wußte, daß er sie töten mußte, denn sonst würden sie ihn töten. Also hatte er auf den Verdacht hin, daß sie ihm gefolgt wären, eine Falle aufgestellt. Er wartete jetzt ab, ob irgendwas hineintappte.
Pe Ell fühlte, wie eine Welle kalter Entschlossenheit ihn durchströmte, und er wich in den Schatten der Gasse zurück. Katz und Maus, etwas anderes war das nicht. Er lächelte und wartete.
Endlose Minuten verstrichen in völliger Stille. Pe Ell wartete nach wie vor.
Und dann tauchte unvermittelt der Kratzer aus dem Dunkel eines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite zur Linken hervor, tänzelte beinahe graziös in Sicht. Pe Ell hielt den Atem an, als das Monster die Luft prüfte und sich langsam dabei drehte. Zufrieden ging es schließlich weiter. Pe Ell atmete langsam aus und folgte ihm.
Es wurde immer heller, und die Nachtluft wandelte sich in einen grauen Schimmer, der die Feuchtigkeit reflektierte, so daß es noch schwieriger wurde, auszumachen, was weiter vorn geschah. Aber Pe Ell ließ sich nicht aufhalten. Er verließ sich darauf, daß sein Gehör ihn vor irgendwelchen Gefahren warnen würde, der Geräusche des sich entfernenden Kratzers ständig bewußt. Das Biest sorgte sich jetzt nicht mehr um etwaige Verfolger. Seine nächtliche Arbeit war erledigt. Es war auf dem Heimweg.
Zum Unterschlupf des Steinkönigs, dachte Pe Ell, zum ersten Mal ungeduldig, seit die Jagd angefangen hatte.
Er holte den Kratzer ein, als dieser vor einem Gebäude mit glatter Oberfläche und einem zehn Meter hohen und doppelt so breiten, dunklen Alkoven langsamer wurde. Der Kratzer tastete mit einem seiner Fühler über den Stein an der Spitze des Alkovens, und die Wand schwang sich geräuschlos beiseite. Ohne sich umzuschauen, schlüpfte der Kratzer durch die Öffnung. Sobald er im Inneren war, schwang die Wand wieder an Ort und Stelle.
Jetzt hab ich dich! dachte Pe Ell grimmig.
Trotzdem blieb er noch fast eine Stunde dort, wo er war, und wartete ab, ob noch irgend etwas geschehen würde, und um sicherzugehen, daß dies nicht eine weitere Falle war. Als er sich vergewissert hatte, daß es ungefährlich war, kam er hervor und huschte über den Gehsteig an den Häusern entlang, bis er vor dem versteckten Eingang stand.
Er nahm sich lange Zeit, ihn zu untersuchen. Die Steinfassade war glatt und eben. Er konnte die Nahtstellen der Öffnung in dem Alkoven erkennen, doch er hätte die Tür nie gesehen, wenn er nicht gewußt hätte, daß sie dort war. Weit oben über seinem Kopf, zwischen den grauen Steinen kaum erkennbar, entdeckte er eine Art Hebel. Ein Riegel, dachte er triumphierend. Ein Eingang.
Er blieb noch eine Weile dort und dachte nach. Dann machte er sich auf und suchte in den gegenüberliegenden Häusern nach einem Versteck. Sobald er sich versteckt hatte, wollte er sich hinsetzen und darüber nachdenken, wie er diesen Hebel bewegen würde. Danach wollte er erst einmal schlafen, bis es dunkel wurde. Dann würde er abwarten, bis der Kratzer herauskam.
Und dann würde er hineingehen.
Kapitel 22
Nacht lag über dem Westland als feuchtes, windstilles Leichentuch, die Tageshitze
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