Shannara V
hinunterlief. Es war eine verwegene Sache, die er vorhatte, aber seine Verzweiflung war zu groß geworden. Wenn er nicht bald freikam, würde Par etwas Schlimmes zustoßen. Daß er davon überzeugt war, basierte zwar hauptsächlich auf Vermutung und Angst, seine Befürchtungen waren dadurch aber nicht weniger real. Er wußte, daß er nicht so klar denken konnte, wie er es sollte. Wenn er das getan hätte, hätte er sicher niemals erwogen, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Aber wenn das Schloß nicht wieder eingerastet war, wenn der Raum noch immer offen und das Spiegeltuch noch immer in seinem Schrank war und wartete…
Schritte erklangen irgendwo unter ihm, und er erstarrte an der Treppenwand. Die Schritte wurden einen Augenblick lauter und verklangen dann. Coll wischte seine Hände an seiner Hose ab und versuchte nachzudenken. In welchem Stockwerk war es? Vier, hatte er gezählt, nicht wahr? Er ging weiter, betrat den vierten Treppenabsatz nach unten, preßte seinen Körper gegen den Stein und spähte um die Ecke.
Der Gang vor ihm war leer.
Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und trat aus seinem Versteck. Er schlich schnell und leise durch den Gang und warf dabei ängstliche Blicke vor und hinter sich. Die Schattenwesen beobachteten ihn ständig. Ständig. Aber jetzt waren keine da, wie es schien, keine, die er sehen konnte. Er ging weiter. Er überprüfte im Vorbeigehen jede Tür. Ein Wolfskopf mit roten Buchstaben darunter - wo war er?
Wenn er gefangen war…
Dann war die Tür vor ihm, die er suchte, die Wolfsaugen schauten in seine eigenen. Er ging schnell darauf zu, legte sein Ohr daran und lauschte. Stille. Vorsichtig streckte er die Hand aus und drehte den Knauf.
Die Tür gab nach und öffnete sich. Coll ging hindurch.
Der Raum war leer bis auf den hölzernen Schrank, einen großen, geheimnisvollen Kasten, der an der entgegengesetzten Wand lehnte. Er konnte sein Glück kaum fassen. Schnell ging er zu ihm hinüber, öffnete ihn und griff hinein. Seine Hände schlossen sich um das Spiegeltuch. Vorsichtig nahm er es heraus und hob es in das graue Licht. Der Stoff war weich und dicht, der Umhang so leicht wie Staub. Seine Schwärze war beunruhigend, sie wirkte, als könne sie einen vollständig verschlingen. Er hielt den Umhang einen Moment vor sich, betrachtete ihn und erwog ein letztes Mal, ob das, was er vorhatte, wirklich ratsam war.
Dann warf er den Umhang schnell um seine Schultern, daß er ihn einhüllte. Er konnte ihn kaum spüren, da war nichts anderes als der Schatten, den er im verblassenden Tageslicht warf. Er band die Kordel um seinen Hals fest und zog die Kapuze über seinen Kopf. Er wartete hoffnungsvoll. Nichts schien anders geworden zu sein. Alles war gleich. Er wünschte plötzlich, er hätte einen Spiegel, um sich betrachten zu können, aber es war keiner da.
Nachdem er den Schrank hinter sich geschlossen hatte, durchquerte er den Raum und trat hinaus auf den Gang.
Er hatte nur wenige Schritte getan, als ein Schattenwesen auf der Treppe auftauchte.
Coll spürte sein Herz sinken. Er hatte keine Waffen, einfach nichts, um sich zu schützen, und keine Zeit und keinen Platz, um sich zu verbergen. Er ging weiter auf seinen Entdecker zu, da er einfach nicht wußte, was er sonst tun könnte.
Das Schattenwesen ging an ihm vorbei, ohne innezuhalten. Ein kurzes Nicken, ein kaum wahrnehmbares Anheben des dunklen Gesichts, und der andere war vorbei und ging weiter, als sei nichts geschehen.
Coll empfand ein Aufwallen freudiger Erregung und Erleichterung. Das Schattenwesen hatte ihn nicht erkannt! Er konnte es kaum glauben. Aber jetzt war keine Zeit, dieses Glück zu genießen. Wenn er der Südwache und Rimmer Dall jemals entkommen wollte, dann mußte es jetzt sein.
Er durchquerte die Gänge und stieg die Treppen in dem Monolithen hinab, mied hell erleuchtete Orte zugunsten dunklerer. Er kannte nur einen Weg, war dabei aber entschlossen, so wenig wie möglich aufzufallen, Umhang hin oder her. Seine Hände umklammerten schutzsuchend die dunklen Falten, und seine Augen suchten die Schatten ab, als der Tag in die Dämmerung überging. Er erreichte ungehindert den Übungshof. Waffen und Rüstungen standen in Gestellen und hingen auf Pflöcken, alles Metall daran schimmerte dumpf. Ulfkingroh war nirgends zu sehen. Coll nahm einige lange Messer und stopfte sie sich unter seinen Umhang. Er ging am Rande des offenen Geländes zu den Türen, die in die äußeren Höfe führten. Zwei
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