Shannara VII
Anstrengung durch die Straßen. Die Ilse-Hexe mochte die Dunkelheit und fand einen Trost darin, den ihr das Tageslicht versagte. Die Dunkelheit beruhigte sie, milderte Ecken und Kanten und verminderte die Klarheit. Das Sehen verlor an Bedeutung, denn das Auge konnte getäuscht werden. Eine Bewegung hier oder dort konnte das Aussehen eines Gegenstandes verändern. Was im Licht zuverlässig wirkte, wurde in der Finsternis verdächtig. So spiegelte sie ihr Leben, eine Sammlung von Bildern und Stimmen, von Erinnerungen, die ihr Wachstum formten, die keineswegs alle in einer bestimmten Abfolge geordnet und nicht auf eine Weise verbunden waren, die Sinn ergab. Wie die Schatten, mit denen sie sich so stark identifizierte, bestand ihr Leben aus zerfransten Enden und losen Fäden, die dazu einluden, neu genäht zu werden. Ihre Vergangenheit war nicht in Stein gehauen, sondern auf Wasser gemalt. Erfinde dich selbst neu, hatte man ihr vor langer Zeit aufgetragen. Erfinde dich selbst neu, und du wirst unergründlich für jene, die aufdecken wollen, wer du wirklich bist.
In der Nacht, in der Dunkelheit und im Schatten konnte sie dies leichter verwirklichen. Sie brauchte ihr Aussehen keinem zu enthüllen und konnte ihr Wesen verbergen. Außerdem konnte sie andere dazu bringen, sich ein Bild von ihr zu machen, und sie dadurch dauerhaft täuschen.
Ohne angesprochen zu werden, ging sie durch die Stadt und begegnete fast niemandem, und die wenigen, die ihr entgegenkamen, bemerkten ihre Gegenwart nicht. Es war spät, der größte Teil des Ortes schlief, und diejenigen, welche sich des Nachts in Bierschenken und Lusthöhlen herumtrieben, kümmerten sich nur um ihre eigenen Belange. Sie verzieh ihnen ihre Schwächen, diesen Männern und Frauen, doch sie würde sie niemals als Gleiche akzeptieren. Seit langem gab sie nicht mehr vor zu glauben, ihre gemeinsame Herkunft verbinde sie in irgendeiner Weise. Sie war eine Kreatur des Feuers und des Eisens. Sie war in Magie und Macht geboren. Ihre Bestimmung verlangte, über das Leben anderer zu entscheiden und sich selbst nie von ihnen beeinflussen zu lassen. Mit ganzer Leidenschaft erhob sie sich über das Schicksal, das andere ihr als Kind zugedacht hatten, und rächte sich an ihnen, weil sie das gewagt hatten. Sie würde so viel mehr sein als sie, und sie wären für immer ein Nichts.
Wenn sie ihnen erlaubte, ihren Namen auszusprechen, wenn sie ihn selbst kundtat, würde man sich daran erinnern. Dann wäre er nicht mehr in der Asche ihrer Kindheit verborgen. Er wäre nicht mehr wie ein Bruchstück ihrer verlorenen Vergangenheit. Er würde schweben wie der sanfte Gleitflug des Falken und mit der milchigen Helligkeit des Mondes leuchten. Den Bewohnern dieser Welt würde er ewig in den Köpfen bleiben.
Das Haus des Heilers lag vor ihr, dicht an den Bäumen des Waldes. Sie war spät am Nachmittag aus dem Wildewald losgeflogen, hatte ihren Unterschlupf wegen der Nachricht des Spions verlassen, da sie deren Wichtigkeit spürte und die Geheimnisse, die sich dahinter verbargen, enthüllen wollte. Ihren Kriegswürger hatte sie in dem alten Bewuchs unter den Steilhängen gelassen; über den schrecklichen Kopf hatte sie eine Haube gezogen und die Krallen angepflockt. Sonst würde er sich aufbäumen, und zwar so wild, dass sogar Magie ihn nicht halten konnte, wenn sie nicht zugegen war. Als Kampfvogel suchte er allerdings seinesgleichen. Sogar die großen Rocks hüteten sich vor ihm, denn der Würger kämpfte stets bis zum Tode, ohne viel an seine Verteidigung zu denken. Niemand würde ihn bemerken, da sie einen Zauber der Furcht ausgesprochen hatte, um Unerwünschte zu vertreiben. Bis Sonnenaufgang würde sie längst zurückgekehrt sein.
Sie schlüpfte auf spitzen Zehen durch die Tür ins Haus des Heilers, schlich durch die vorderen Räume zu den Krankenzimmern, summte leise, wenn sie Helfern begegnete, die noch arbeiteten, und lenkte ihre Gedanken nach innen und ihre Blicke von ihr fort, damit sie nicht von ihnen bemerkt wurde. Diejenigen, die vor der Tür des Schiffbrüchigen Wache hielten, versetzte sie in Schlaf. Sie sanken auf ihre Stühle, lehnten sich an Wände und auf Tische, ihre Augen schlossen sich, und ihr Atem ging langsam und tief. Im Haus des Heilers wurde es still und friedlich, und ihr Lied fügte sich angenehm in den Ort ein. Sie erfüllte die Luft mit ihrer Musik, einer zarten Decke, die Vorsicht und Unbehagen verhüllte, die sonst möglicherweise ausgelöst worden wären. Bald
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