Shannara VII
sich, zog Schnürstiefel und Mantel an und kletterte hinauf auf Deck. Oben an der Treppe blieb er reglos stehen, als könnte er die Antwort in der Dunkelheit finden. Er hatte seinen Namen deutlich gehört. Jemand hatte ihn ausgesprochen. Er strich sein lockiges Haar zurück und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Der Mond und die Sterne leuchteten hell wie Leuchtfeuer an einem samtschwarzen Himmel. Die Umrisse des Luftschiffes und der Insel waren klar zu erkennen. Alles war ruhig, schien in Eis erstarrt zu sein.
Er ging zum vorderen Mast, bis vor das geheimnisvolle Objekt, das Walker Boh so sorgsam bewachte. Dort schaute er sich nochmals um und forschte nun sowohl in sich als auch draußen nach dem, was ihn hergerufen hatte.
»Suchst du etwas, Junge?«, zischte eine bekannte Stimme leise neben ihm.
Truls Rohk. Bek zuckte unwillkürlich zusammen. Der Gestaltwandler hockte irgendwo im Schatten seiner Kiste, so nahe, dass sich Bek vorstellte, er könne die Hand ausstrecken und ihn berühren. »Hast du mich gerufen?«, hauchte er.
»Es ist eine gute Nacht, um Wahrheiten zu entdecken«, flüsterte der andere mit seiner rauen, nicht ganz menschlichen Stimme. »Willst du es versuchen?«
»Wovon sprichst du?« Bek bemühte sich, seiner Stimme einen festen und ruhigen Klang zu geben.
»Summe für mich. Nur ein bisschen, so wie ein Kätzchen schnurrt. Summe, als wolltest du mich mit deiner Stimme anlocken. Verstehst du?«
Bek nickte und fragte sich, was in aller Welt der andere beweisen wollte. Summen? Ihn mit seiner Stimme anlocken?
»Mach schon. Zweifel nicht an mir. Denke daran, was du tun willst, und dann tu es. Konzentrier dich.«
Bek folgte der Aufforderung. Er malte sich aus, wie der Gestaltwandler neben ihm stand, stellte ihn sich in der Dunkelheit vor und summte, als könnte der Laut allein ihn herholen. Das Summen war allerdings kaum zu hören und, soweit Bek es beurteilen konnte, erfolglos.
»Nein!«, zischte der andere verärgert. »Gib dir mehr Mühe! Mehr durch die Zähne, Junge!«
Bek versuchte es erneut. Sein Summen brummte und vibrierte von der Kehle durch Mund und Nase. Durch die Anstrengung schien die Luft vor seinen Augen zu schimmern, als sei sie flüssig.
»Ja«, murmelte Truls Rohk, und in seiner Stimme schwang Zufriedenheit mit. »Das habe ich mir gedacht.«
Bek verstummte und starrte in die Schatten. »Du hast es dir gedacht? Was?« Ihm selbst hatte das Summen nichts enthüllt. Was hatte Truls Rohk bloß daraus ersehen?
Ein Teil der Schwärze um den Kasten löste sich, nahm Gestalt an und erhob sich im Licht der Sterne. Es war eine nur vage menschliche Form, groß und erschreckend. Bek musste sich zusammenreißen, damit er nicht zurückwich.
»Ich kenne dich, Junge«, wisperte der andere.
Bek erstarrte. »Woher?«
Der andere lachte leise. »Ich kenne dich besser als du dich selbst. Die Wahrheit über dich ist ein Geheimnis. Aber es ist nicht an mir, es zu enthüllen. Der Druide muss es tun. Ich kann dir lediglich ein wenig zeigen, wie es aussieht. Bist du daran interessiert?«
Einen Augenblick dachte Bek daran, sich umzudrehen und davonzugehen. Das, was der andere beabsichtigte, beinhaltete etwas Finsteres, etwas, das den Jungen verändern würde, sobald es einmal enthüllt wäre. Das begriff er instinktiv.
»Wir sind uns ähnlich, du und ich«, sagte der Gestaltwandler. »Wir sind nicht, was wir zu sein scheinen oder wofür andere uns halten. Wir sind auf eine Weise verbunden, die dich überraschen und erstaunen würde. Vielleicht sind unser beider Schicksale irgendwie miteinander verwoben. Was aus dem einen wird, hängt vom anderen ab.«
Bek konnte sich das nicht vorstellen. Er konnte kaum dem folgen, was sein Gegenüber sagte, geschweige denn, was er meinte. Er erwiderte nichts.
»Lügen verhüllen uns wie Masken den Dieb, Junge. Mich, weil ich es so gewollt habe - dich, weil du getäuscht wurdest. Wir sind Gespenster, die im Schatten leben, und die Wahrheit unserer Identität ist ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Aber deines ist bei weitem das dunklere. Deines hat seinen Ursprung in einem Spiel des Druiden und in der finsteren Versprechung einer Magie. Meines ist schlicht das Ergebnis eines verdrehten Schicksals und der dummen Entscheidung von Eltern.« Er schwieg kurz. »Komm mit mir, und ich werde es dir erzählen.«
Bek schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht gehen…«
»Kannst du nicht?«, unterbrach ihn der Gestaltwandler zischend. »Hinab auf die Insel und in die Burg?
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